Benjamin Radchewski
1882-1922
Erinnerungen sind nicht immer wehmütiges Zuerrckdenken und die Vergangenheit ist nicht unbedingt der Gegenwart vorzuziehen. Wenn ich mich an das, was vor so vielen Jahen geschah, erinnere, dann sicherlich nicht darum, weil ichmich in diese Zeit zurrckwnsche. Ich sehne mich nicht Zuerrckdenken und die Vergangenheit ist nicht unbedingt der Gegenwart vorzuziehen. Wenn ich mich an das, was vor so vielen Jahen geschah nach der Vergangenheit. Aber ich lasse meinen Gedanken freien Lauf - ohne darauf zu bestehen, dass alles, was in meinem Gedächtnis verblieben, sich auch tatsaechlich so abgespielt hat. Die Eindrcke verblassen im Laufe der Jahre, und vieles mag anders gewesen sein, als ich es damals gesehen mich dessen erinnere. Die Geschichte der Familie Radzewski braucht keineswegs historischen Kriterien zu gengen. Vielleicht gleicht sie eher der Vitrine im Museum in Jerusalem, die u.a. das Interieur der Wohnung einer j-dischen Familie in Deutschland zur Zeit des Biedermeier darstellt: so fremd und entfernt fuer die, die in einem anderen Zeitalter geboren - aber so vertraut und nahe dem, der darin aufgewachsen.
Ich bin am 14. Maerz 1916 geboren, in Wriezen a/O, 70 Km. stlich von Berlin . Meine Eltern waren Juden, dem Mittelstand zugehrig. Sie waren nicht Ortsansaessige, sondern kamen aus anderen Gegenden Deutschlands. Ueber ihre wirtschaftliche Situierung weiss ich wenig, noch, mit welchen Mitteln sie ihr Unternehmen grndeten und das Haus erwarben; reich waren sie sicher nicht. Ich nehme an, die Mitgift meiner Mutter und die blichen Anleihen und Hypotheken halfen ihnen, sich zu basieren.
Mein Vater wurde 1882 in einer kleinen Stadt, in Landsberg, Ostpreussen, geboren, als dritter von drei Shnen, in der ersten Ehe seiner Mutter. Sein Vater, mein Grossvater, kam nach Landsberg aus dem zaristischen Russland. Er flchtete von dort, um dem Militrdienst zu entgehen, der damals fr die dafr Ausgehobenen 20 Jahre whrte - ein Unglck fuer den Betroffenen. Juden entgingen dem Militaerdienst im Allgemeinen durch Flucht, grsstente Erinnerungen sind nicht immer wehmütiges ils nach Deutschland. (Das heisst nicht, dass sich alle Juden in Russland dem Militrdienst entzogen; es waren aber meist die assimilierten Kreise, die dazu bereit waren). Mein Grosvater, Max Radzewski, kam aus einem Stdtchen in der Nhe der deutsch-russichen Grenze, Racionz. berlieferungsgemss soll hier der Ursprung des Namens Radzewski zu suchen sein. In Landsberg ehelichte Max Radzewski die 16 jhrige Tochter einer der dort ansaessigen jdischen Familien, meine Grossmutter. Sie gebahr ihm drei Shne: Willy, der im ersten Weltkrieg in Frankreich fiel, Oskar und meinen Vater. Im Alter von nicht viel ber 20 Jahren raffte ihn ein Herzschlag dahin. Meine Grossmutter heiratete ein zweites Mal, ebenfalls einen Witwer, Kuschinsky mit Namen, der selbst drei Kinder in die Ehe brachte. Im Laufe der Jahre kamen dann noch fnf Kinder hinzu, Jungens und Mdels. Allem Anschein nach verdiente Kuschinsky seinen Unterhalt nicht viel anders als Grossvater Radzewski vor ihm: als Hausierer in den umliegenden Doerfern. Elf Sprsslinge aufzuziehen, keine leichte Aufgabe fuer eine Familie, die nicht mit bergrossem Einkommen gesegnet ist. Trotz allem erinnere ich mich, meinen Vater immer von seinem Elternhaus als warm und aufgeschlossen reden zu hren. Seine Mutter, meine Grossmutter, war, was man eine 'Leseratte' nannte. Mein Vater schilderte sie immer am Herd sitzend, in einer Hand den Kochlffel zum Umrhren, mit dem Fuss ab und zu der Wiege mit dem jehweiligenn Baby einen Schubbs gebend, und auf den Knien ein Buch. Man sagt, das dieses Arrangement garnicht schlecht funktionierte... Wie dem auch sei - ich selbst kann mich gut entsinnen, dass Grossmutter Kuschinsky bis zu ihrem Tode im Alter von 72 Jahren ihre Bcher verschlungen hat.
Die Bildung, die das Stdtchen seinen Kindern vermitteln konnte, waren sieben Klassen Grundschule. Schulpflicht bestand fuer die Altersklassen von sechs bis vierzehn. Das letzte Schuljahr also musste zwei mal in der letzten Klasse absolviert werden - nach damaliger Klassenordnung die erste Klasse. Wenn man nicht zu den begterten Schichten gehoerte, die ihre Kinder ins Gymnasium nach Ausserhalb schicken konnten, oder vielleicht sogar auf die Universitt, wozu nur wenige im Stande waren, dann hatten diejenigen, die die rtliche Volksschule beendeten, die Wahl zwischen einer Lehrstelle im Handwerk, im Handel oder als Beamter. Fuer die jdische Jugend war die bliche Laufbahn die Lehre in einem der jdischen Lden in den umliegenden Stdtchen - mit Wohnen und Verpflegung am Platz und einem Taschengeld. So auch fr meinen Vater.
Ich habe keinesfalls die Absicht eine Soziologie der preussischen Juden in der zweiten Haelfte des 19. Jahrhundert zu schreiben. Das haben mehr dazu Berufene schon vor mir getan. Ich versuche lediglich die gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Grundlagen dieser Zeit zu beleuchten. Der grüsste Teil der Juden ausserhalb der grossen stdtischen Zentren lebten vom Kleinhandel. Im Laufe der Jahre fundierten sie sich wirtschaftlich, ihr Shne verliessen das Elternhaus auf der Suche nach Bildung oder weitgreifender Unternehmen. Die Grndung des deutschen Reiches im Jahre 1871 erffnete eine beispiellose wirtschaftliche wie kulturelle Bltezeit. Zwar war die preussische Mentalitt nicht ausgesprochen der Demokratie zugeneigt, wenn auch an der Spitze des deutschen Reiches, theoretisch wenigstens, eine konstutionelle Monarchie stand. Nach der Vereinigung der Lnder aber war Preusssen nicht mehr in allem absolut allein bestimmend. berdies sorgten wachsende liberale Kräfte, und vor allem die sich rapide strkende Sozieldemokratie, fr Bewusstsein der Rechte des Individuums und der Gedankenfreiheit.
ffentliche Sozial- und Krankenversicherung wurden eingefhrt, getragen durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer in dem auch noch heute blichen Verhaeltnis. Die Freiheit der Presse war fr damalige Zeit relativ grosszgig. In den schnen Knsten, in der Musik und Literatur, fhrten die fortgeschrittenen Krfte und die Avant Garde. Deutschland wurde das Weltzentrum von Wissenschaft und Kultur. Die dunkeleren Seiten der deutschen Psyche und mit ihr der Aufstieg der Nazis lagen noch weit im Nebel der Zukunft.
Die Emanzipation der Juden begann natrlich nicht mit der Reichsgrndung. Whrend der Aera Napoleons, aber hauptsaechlich in der Epoche nach ihm, begannen sich die preussischen Juden der europischen Kultur zu ffnen. Es gab da verschiedene Einstellungen dazu: Einige der fuehrenden Kpfe suchten die Tradition innerhalb der vier Wnde des Hauses zu bewahren, aber erstrebten eine weitgehende Assimilation nach aussen hin. Heinrich Heine seinerseits sah in der Taufe das 'Entreebillet zur europischen Kultur'. Andere wieder glaubten sich mit Assimilierung ohne Taufe begngen zu knnen. Auch in orthodoxen Kreisen, die bis dato jeglichen kulturellen Kontakt mit der Umwelt strikt ablehnten, regten sich Stimmen, die ãøê àøõ òí úåøä, d.h. das traditionelle Talmudstudium zusammen mit allgemeiner Bildung fr unerlsslich hielten (auf sie blickten viele der îùëéìéí in Osteuropa, die sich vom Joch stagnierter berlieferung befreien wollten). Aber die intellektuellen Schichten waren schon darber hinaus gewachsen. In Berlin hielt die Jdin Rahel Varnhagen ihren berhmten 'Salon', in dem sich hervorragende Kpfe der Zeit, Knstler und Denker, trafen. Der berliner Schriftsteller Georg Herrmann schildert in seien Romanen `Jettchen Gebert' und denen darauf folgenden die Auseinandersetzung zwischen Tradition und Assimilation der Juden Berlins in dem Zeitraum von 1820 - 1870.
Berlin, Reichshauptstadt, kosmopolitische Metropole, damals schon sicher mit mehr als einer Million Einwohnern, bte eine magische Anziehungskraft auf die jdische Jugend in den Stdten und Drfern der entlegenen Provinzen aus. Die grossen Warenhuser bestanden schon, und daneben tausende von kleinen und mittleren Unternehmen. Wenn auch die sozialen Bedingungen fuer die damalige Epoche relativ fortschrittlich waren, so waren die Arbeitsbedingungen selbst mehr als rckstndig. Der Kampf der Industrie- und Grubenarbeiter um den acht Stunden Tag und menschenwrdige Lhne und Arbeitspltze brachte den Angestellten im Handel keineswegs den Fortschritt - die berdies zum berwiegenden Teil noch nicht einmal organisiert waren. Ihr Arbeitstag whrte 11 Stunden, mit einer Stunde Mittagspause. Ich bin auch nicht sicher, ob die Juden unter den `Werkttigen im weissen Kragen' so wild darauf waren, Gewerkschaften zu grnden; sie waren wohl eher daran interessiert, sich wirtschaftlich zu basieren und in absehbarer Zeit selbststndig zu werden. (Die Juden in den Arbeiterbewegungen waren zumeist Intellektuelle, Angehrige freier Berufe, Politiker, im Allgemeinen assimiliert - aber gewiss nicht Arbeiter oder Angestellte. Im Gegensatz zu Ost-Europa gab es in Deutschland kein jdisches Proletariat). Das Angestelltenverhltnis war im Grunde genommen im Tagelohn, auf Basis tglicher Kndigung. Die Gehlter wurden am ersten jedes Monats ausgezahlt.
Nach Beendigung seiner Lehrzeit in einer der Kleinstdte Ostpreussens fand mein Vater Anstellung in dem berliner Warenhaus Jandorf, durch Empfehlung oder Vermittlung, wie damals blich. An seinem ersten Arbeitstag, Frhmorgens, stellte ihn Herr Jandorf, der Boss, dem Personalchef mit folgenden Worten vor: "Hier haben Sie noch jemanden, den Sie morgen frh an die Luft setzen knnnen!". Und unter diesen Bedingungen, sozusagen als Tagelhner, arbeitete mein Vater dort an die sieben Jahre. Er stieg in der Hierarchie des Personals auf, und im Laufe der Jahre knpften sich sogar persnliche Beziehungen zu Herrn Jandorf an; ich glaube, dass auch weitere Mitglieder der Verwandtschaft ihre Laufbahn bei der Firma Jandorf begannen (Wenn ich mich nicht irre, so war Leo Levin aus Pillau einer der letzten der Familie, der dort 'volontierte').
Ein Teil des Gehalts bestand aus Prmien, als Ergnzung zum festen Gehalt. Prmien waren ausgesetzt fuer den, forcierten, Verkauf diesen oder jenen Artikels. Feste Preise kannte man noch nicht. Ein Minimum Preis war in Code auf dem Etikett verzeichnet - darueber hinaus wurde gehandelt. (Feste Preise wurden in Deutschland nicht vor 1910 eingefhrt; als ich 1937 nach Holland kam, gab es Lden ohne feste Preise. Hier im Land wurden feste Preise erst nach 1948 gesetzlich bestimmt). Das Einkommen eines Verkufers war also zum grssten Teil bedingt durch sein Verkaufstalent - und somit seine Karriere.
Der Lebensstandart dieser ersten Jahre war dem Einkommen angepasst: ein gemietetes Zimmer, vielleicht zusammen mit einem Kollegen, Essen an einem (jdischen) Mittagstisch. Die schumende, tosende Grosstadt bot nicht nur Abwechselung sondern sorgte vor allem fr Erweiterung des geistigen Horizonts: Kontakt mit gebildeten Menschen, Vortrge, politische Versammelungen, Bcher, Musik, Oper und Theater. Eintrittskarten waren billig zu erstehen, wenn man sich zum Beifallklatschen verpflichtete, d.h. sich der `Claque' anschloss, jener Gruppe bezahlter Beifallsklatscher, angestellt von Regie und Direktion, ein zgerndes Publikum durch anhaltendes Klatschen zu strmischem Beifall zu begeistern - manchmal an voraus bestimmten Stellen, oder allein, wenn alle Strnge rissen und die Zuschauer revoltierten und pfiffen. Claquen waren besonders wichtig bei Ertauffhrungen junger oder umstrittner Schriftsteller, deren Aufnahme durch das Publikum nicht von vornherein gesichert schien. Man ging von der Annahme aus, dass rauschender Beifall auch die Kritk mitreissen wrde, was nicht unbedingt seine Richtigkeit hatte. Mein Vater behauptete jedenfalls, er selbst htte wenig Probleme damit gehabt; junge Menschen beeindrucken und begeistern sich leicht.
Ueber den Freundes- und Bekanntenkreis meines Vater weiss ich so gut wie garnichts. Ich entsinne mich nur, dass wir als Kinder mit unserer Mutter in einem der bekannteren berliner Cafes sassen, und die Inhaberin an unseren Tisch herankam und Grsse an unseren Vater ausrichtete. Mamma erklaerte uns, dass diese Dame, recht rundlich brigens, zu Pappas Bekanntenkreis "von damals" gehrte. Darueber hinaus aber entsinne ich mich nicht, dass Bekannte vergangener Zeiten bei uns vorsprachen.
Mein Vater kam um den obligatorischen Militrdienst dadurch herum, dass seine Kr-permasse nicht denen der Musterkommission gengten. Das Menschenreservoir der deutschen Armee war gross genug, um whlerisch zu sein. Die Dienstpflicht dauerte zwei oder drei Jahre, wer jedoch die `Mittlere Reife'-Pruefung bestanden, d.h. Untersekunda absolviert hatte, dem wurde die Dienstpflicht auf ein Jahr beschrnkt, das sogenannte `Einjhrige'. Abiturienten, eine relativ dnne Schicht, waren vom Militrdienst ganz befreit, wenn sie ihre akademischen Studien fortsetzten; im Kriegsfalle wurden sie als Offiziere eingezogen. In Friedenszeiten aber war der Dienst im kaiserlichen Heer fr Offiziere und Unteroffiziere Beruf.
Ich weiss nicht ob die Erfahrung der Juden im Handel erworbenes Wissen oder angeborene Fhigkeit war, wie die Nichtjuden immer behaupteten - eine Theorie die im Israel unserer Tage wenigstens noch bewiesen werden muss. Die diesbezgliche Forschung ist sicher ein Teil der jdischen Geschichte. Die Berufskenntnisse in den verschiedenen Zweigen des Handels, in unserem Falle im Textilfach im Allgemeinen, oder in der Konfektion im Besonderen, eignete man sich im Laufe der Jahre an und an mehr als einem Arbeitsplatz. Zu meiner Zeit sandten Familien ihre Shne in (akademische) Textilschulen und Spinnereien. Die stndig wachsende Bedrohung der mittleren und kleinen Betriebe durch die sich ausbreitenden Warenhuser verlangte Vertiefung der Fachkenntnisse. Damals aber hing schliesslich und endlich alles von der persnlichen Neigung und den zur Verfgung stehenden Mitteln des Einzelen ab, seine Laufbahn als Angestellter fortzusetzen, oder sich selbststndig zu machen. Eine Anstellung war auch damals keine Verringerung des persnlichen Status: die Direktoren grosser Wirtschaftskorporationen waren `Angestellte', wie auch die Manager der grossen Produzenten. Wie dem auch sei - zu jener Zeit war die Neigung zur Selbststndigkeit strker als heutzutage, wo eine vernderte Wirtschaftsstruktur andere Preferenzen entwickelt.
Unser Vater beschloss sein eigens Unternehmen zu gruenden. Sein lterer Bruder Oskar, der gleich ihm Lehr- und Angestelltenjahre hinter sich hatte, erwarb bereits im Jahre 1910 ein Geschft in Bad Freienwalde a/O, ein Stdtchen ca. 6 0 Km stlich von Berlin - nicht mehr als 12 Km von Wriezen entfernt, wo sich Pappa 1912 etablierte.
Der familire Hintergrund meiner Mutter war nicht sehr verschieden vom dem meines Vaters, nur dass sie in anderer Umgebung aufwuchs, in einer Grosstadt. Geboren 1883 in Rawitch, Provinz Posen (seit 1918 zu Polen gehrig), dem Ehepaar Gerson und Cecilie Neustadt, war sie die dritte von vier Tchtern, die kurz nach einander zur Welt kamen. Auch Mutters Vater begann als Hausierer, aber einer anderen Art von Waren - Ikone und Heiligenbilder, die bei der Landbevlkerung sehr gesucht waren. Dies brachte ihn im Laufe der Zeit zum Handel mit Antiquitten, und, nicht weniger wichtig, zu weitlufigen Kenntnissen in diesem Handelszweig. Ende der 80iger Jahre siedelte die Familie nach Breslau ber, die damalige Provinzhauptstadt Schlesiens, einer Stadt von ber einer halben Million Einwohnern - ein Industrie- und Kultur Zentrum, das sich einer Universtt, Oper, Theater und Museen rh-men konnte und einer grossen, blhenden jdischen Gemeinde. Wenn auch Mamma nicht mehr als acht Volksschulklassen besuchte, die kulturellen Mglichkeiten der Grosstadt erweiterten ihren Bildungskreis weit ber die Volksschulerziehung hinaus.
Nach Beendigung ihrer Schulzeit fand sie Arbeit in einem grsseren Geschaeft und erwarb sich bald dort eine Stellung. Mit 16 war sie Kassierin, damals ein Vertrauensposten und scheint auch Buchfhrung und sonstige administrative Ttigkeiten ausgebt zu haben - doch darueber weiss ich kaum etwas. Sie war bereits 32 als sie meinen Vater ehelichte.
Den Antiquittenladen von Grossvater Neustadt habe ich bis heute nicht vergessen. Viele Male haben wir uns dort herumgedreht, das letzte Mal 1936 , drei Jahre vor dem Ende. Es war dies eine gerumige, hohe, 9 - 10 Zimmerwohnung. In den frheren Jahren gab es dort noch Gasbeleuchtung. Die Hlfte der Wohnung wurde bewohnt, die andere Hlfte diente als Ge- schft Die Rume waren bis an die Decke angeellt mit Antiquitten aller Art: Mbel, Teppiche, Bilder, Vitrinen voll mit Schmucksachen, Bijouxs und Meissener Porzellan, Silber, Judaica, von Leuchtern bis Thoraschmuck - Alladins Sesam. Gebannt, mit grossen Augen und verhaltenem Atem standen wir Kinder vor diesem Zauber. Einmal ging die Begeisterung meiner Schwester ber irgend etwas soweit, dass sie sich pltzlich mit ihrem Kopf mitten in der Vitrine befand - durch die Glasscheibe hindurch!
Jugenderinnerungen bertreiben meist, aber wenn ich heute die Ben Jehudstr. in Tel-Aviv entlang gehe und einen Blick in die Antiquittenldchen werfe, so finde ich nur einen blassen Vergleich zu den Schtzen, die in Breslau aufgehuft waren. Natrlich, die Waren wurden nicht in Auslagen dargeboten wie heutzutage in den besseren Geschften, aber das Publikum von damals (und sicher zum nicht geringen Teil auch noch heute) bevorzugte das Durcheinander eines schlecht beleuchteten Basars, in dem man herumstbern und Seltsamkeiten entdecken konnte, wenn nicht gar Schtze, und die ernsteren und fachkundigen Kunden wussten sowie, was sie suchten. Der ernsthafte und wichtige Handel mit Antquitten spielte sich auch damals ausserhalb des Ladens ab, in den Slen der Auktionshuser, in der Ersteigerung ganzer Nachlsse und deren sofortigem Wiederverkauf; vieles ging von Hand zu Hand und gelangte gar nicht erst auf die Regale. (Das Geschft bersiedelte 1939, nominell, nach New York - ob -berhaupt Ware mitgenommen wurde und auf welche Weise, entzieht sich meiner Kenntnis. Die Erben und Inhaber, Mammas Schwester Lea und ihr Mann, Mnne (Emanuel) Pinkus, begannen in New York den Handel mit Antiquitten von Neuem, im alten, im breslauer Stil. Ihr Sohn, mein Vetter Ernst (und spterer Gatte Steffis) fhrte das Geschft nach dem Ableben seiner Eltern weiter - modernisiert mit Auslagen und Virinen und einem neuen Kundenkreis...).
Die Ehe meiner Eltern wurde scheinbar vom Mammas lebenslanger Freundin Rosa, geb. Brauer, gestiftet, die zwei Jahre vorher Pappas lteren Bruder Oskar geheiratet hatte. Das Paar hatte sich in Bad Freienwalde niedergelasen und 1910 ihr neugegrndetes Geschft erffnet. Tante Rosa war eine usserst intelligente Frau mit scharfer Zunge und begabt mit einem Familien-Talent, Verse aus dem Stegreif zu schmieden. Die Freundschaft zwischen den beiden Fran whrte beinahe ein Leben lang; stundenlange Telefongesprche zwischen Freienwalde und Wriezen waren etwas Alltgliches. Dass dieses Band sprichwrtlich zum Schluss zerriss, habe ich bis heute nicht begriffen, ebenso wenig, weshalb und warum. Die Heftigkeit der Auseinandersetzung habe ich nie verstanden - Mamma hat viel Zeit ihrer Pflege gewidmet, wenn sie sie an die Riveriera oder nach Italien begleitete, wenn Tante Rose Erleichterung ihrer schweren Asthma Anflle suchte, oder nach England, wo Gerd in einem Internat untergebracht wurde, und Tante Rosa Angst hatte, sich allein in ihrem Zustand in das Klima zu begeben. Ich komme noch darauf zurrck.
Die Hochzeit meiner Eltern fand im Juni 1916 in einem Saal in Berlin statt, der Sage nach in dem Hotel "Knig von Portugal", das in jdischem Besitz und koschere Kche hatte. Dem Hotel und seinem Besitzer wre keine grosse Wichtigkeit zuzumessen, es sei denn, dass ihm ein sozusagen historischer Makel anhaftete: Gotthold Ephraim Lessing schildert in seinem Schauspiel "Minna von Barnhelm" dieses berliner Hotel Anfang des 19ten Jahrhunderts und seinen "schuftigen Wirt", der seinen Gsten das Fell ber die Ohren zieht. Seitdem waren gute hundert Jahre vergangen, aber der Wirt scheint der selbe Schuft geblieben zu sein - so, wenn ich mich recht erinnere, die Klagen des jungen Ehepaars Radzewski bezglich der Ausrichtung der Hochzeit. Soweit berichtet die Fama. Aber vor mir liegt augenblicklich der Trauschein meiner Eltern, aus gestellt am 15. Juni 1915 in - Breslau . Der Forschung liegt also noch ein weites Feld offen... Ebenso liegt zwischen meinen Papieren der "Hochzeitskarmen", scheinbar von Tante Rosa verfasst (wenn nicht, wie damals blich, bei einem Berufspoeten bestellt). darin war jedoch nichts ber die unmittelbaren Plne des jungen Paares verzeichnet, wo es z.B. die Flitterwochen zu verbringen gedchte.
Wochen mit oder ohne Flitter - am 15. Mrz 1916 erschien im der wriezener Tageszeitung, das "Oberbarnimer Tageblatt" folgende Anzeige:

DIE GLCKLICHE GEBURT EINES ZWILLINGSPAARES zeigen hocherfreut an
RADZEWSKI UND FRAU FRIEDA geb. NEUSTADT Wriezen, den 14.Mrz 1916.

Unsere Geburt war also unbestrittene Tatsache - ber das Glck konnte man geteilter Meinung sein. Das Gesamtgewicht des Zwillingsprchens berstieg keine 2.5 Kg. Heutzutage htte man vielleicht einen Inkubator zu Hilfe gezogen. Aber auch wenn Mamma im Krankenhaus entbunden htte - damals noch nicht allgemein blich - so htte das nicht viel gentzt: in Wriezen und Umgegend gab so etwas nicht. Wrmflaschen und Kissen mussten das Geschft bernehmen. Es gab auch keine Milch, nicht bei meiner Mutter und nicht im Milchladen. Dafr hatte der Milchmann einen freundlichen Rat: "Geben Sie ihnen doch Wasser zu saufen". Die Geburt eines Babys von ein-einviertel Kilo kommt heute sogar manchmal in die Zeitung. Die deutsche Presse im zweiten Kriegsjahr hatte mit wichtigeren Schlagzeilen aufzuwarten.
Erinnert man sich an die ersten zwei Lebensjahre? Wohl kaum. Fotos helfen hier aus. Von Anfang an waren wir stndig krank - aber heute, nachdem ich meine Kinder habe heranwachsen sehen und sechs Enkelkinder dazu, komme ich zu dem Schluss, dass wir nach allem, im Grossen und Ganzen, uns nicht anders verhielten, als viele andere Kinder auch: sich die ersten Lebensjahre mit Erkltungskrankheiten herum zu schlagen. Aber auch hier entstand ein Mythos: mit vierzehn Tagen steckte uns Pappa angeblich mit Schnupfen an, den wir deshalb dann nicht mehr los wurden. Natrlich war hier keineswegs von Ansteckung die Rede, vielmehr von Vererbung, oder richtiger, Disposition durch Vererbung. Und damit werden auch die kommenden Generationen der Familie Radzewski geschlagen sein - wenn nicht ein Atom-Chaos dem biologischen Leben auf Erden ein Ende setzt.
1917 wurde mein Vater zu den Waffen gerufen, als Kanonier bei den 105 mm Batterien, im Westen, in Belgien. Einige Monate spter wurde er verwundet, durch zwei Granatsplitter im Rcken, und das langte zur Beendigung seiner mili- trischen Laufbahn. Was ihm blieb war das Eiserne Kreuz zweiter Klasse, das Verwundeten Abzeichen, Splitter in der Leber, die nicht entfernt werden konnten, und, selbstverstndlich, der Dank des Vaterlandes.
Ich glaube, dass mein Erinnerungsvermgen vom dritten Lebensjahre ab beginnt. Wir wuchsen in einem grossen, zweistckigem Hause auf. Im Erdgeschoss befand sich der Laden, im oberen Stockwerk die Wohnung. Bis zum Umbau 1927 gab es neben der unseren noch ein zweite Wohnung, die vermietet war. Das Geschft umfassete an die 500 qm und vier, spter fnf grosse Schaufenster. Die Wohnung hatte sieben oder acht Zimmer, Kche, Badezimmer und Toilette, und einen riesigen Boden mit noch einem Zimmer, in dem man Gste einquatieren konnte. Die verschiedenen dazugehrigen Gebude umschlossen einen Hof , von dem aus man in die verschiedenen Lagerrume und Schuppen und in die drei Kellergewlbe gelangen konnte. Eines bestimmt fr den Heizkessel der Zentralheizung fr Geschft und Wohnung, die beiden anderen noch richtige Tonnengewlbe im mittelalterlichen Stil, wo Kartoffeln, Fsser mit Eingelegtem und, last not least, auch Wein gelagert waren - grsstenteils nur dem Namen nach...
Jedes unserer Zimmer hatte seinen Namen: das Kleine Zimmer, das Herrenzimmer, das Esszimmer, die Diele, ein Fremdenzimmer, das Kinderzimmer, das Schlafzimmer (der Eltern) und das Mdchenzimmer. Im Kleinen Zimmer hielten wir uns am meisten auf; es war Wohn- und Esszimmer zugleich. Eingerichtet in Biedermeier Mahagony, stand in der Mitte ein grosser, runder Tisch, an der stlichen Wand das Sofa, und darber die Uhr und ihr zu Seiten die ovalen Bilder der Grosseltern aus Breslau . Gegenber die Kommode und darber ein Bild aus dem 19ten Jahrhundert, dass eine Dame darstellte, die wir immer Anna Puff nannten, warum, ist mir entgangen. Dicht an der Sdwand, am Fenster, der Sekretr, an dem bei Schulaufgaben so manche Trne vergossen wurde, und daneben das Mahagonytischchen mit dem Telefon. Und in der Sd-Ost Ecke der Eckschrank, hoch bis unter die Decke, viertrig. Wunderbare und geheimnisvolle Dingen waren darin verborgen, ich weiss nicht mehr was; nur ein Duft von allen mglichen Gewrzen strmte davon aus, kein Wunder, denn der Eckschrank diente als Aufbewahrungsplatz der Liegnitzer Bomben, die whrend der Wintersaison bei uns stndig in Vorrat waren. ber dem Tisch hing ein Kronleuchter, ebenfalls 19tes Jahrhundert, aber bereits mit installierten Glh-birnen an Stelle der Kerzen. An sechs Kerzenhaltern ringsum hingen an jedem sechs Kristall-Prismen, 36 im Ganzen. Zweimal im Jahr, ich glaube wohl zur Zeit der Equinox, schien die Sonne um die Mittagszeit in einem Winkel durchs Fenster, dass die Sonnenstrahlen die Prismen trafen, die nun ihrerseits alle vier Wnde des Zimmers mit Hunderten von Sonnenflecken entflammten, in den Farben des Regenbogens.
Die Diele, eine Verlngerung des Korridors, von der aus die Tren in die verschiedenen Zimmer fhrten, war ebenfalls in Biedermeier eingerichtet, in Birke; mit rundem Tisch, Sofa und Schrnken und obligatem Kronleuchter. ber?flssig besonders zu erwhnen, dass meine Mutter die antiken Mbel in die Ehe brachte. Sie htte gern auch die restlichen Zimmer so mbliert. Mein Vater wollte ihr eine berraschung bereiten und kaufte zwei Zimmer in schwerer Eiche, modern, das Ess- und das Herrenzimmer. Meine Mutter hat sich bis zum Ende ihrer Tage darber gekrnkt - und mit Recht! Aber auch diese Version ist ein Tel des Sagenkreis'.
Im Herrenzimmer hielten wir uns schon seltner auf. Eingerichtet mit Riesen Couch, Klubsesseln und Diplomatenschreibtisch, diente es eigentlich mehr zum Empfang von Gsten. Ein grosser grner Kachelofen mit heizbarer Ofenbank sorgte fr Wrme. ber der Couch hing ein lgemlde eineinhalb mal 2 m im Ausmas. Es stellte ein norwegisches Fjord dar und war das, was man als einen akademischen Schinken bezeichnen knnte. Eine Standuhr mit halbstndigem Gong verlieh der Umgebung Wrde. Das Esszimmer, oder auch das drei- fensterige Zimmer, mit ausziehbarem Eichentisch fr 24 Personen, Bffet und Anrichte, Servanten und Tiffany-Lampe, wurde nur selten geheizt. Es war daher whrend des grssten Teils des Jahres ein natrliches Khlhaus, und wurde auch gelegentlich als solches benutzt.
Solange wir klein waren bewohnten wir das Kinderzimmer, bunt tapeziert, mit einem Mrchenfries ringsum. Dort lebten wir mit unserem Frulein, schliefen, assen und spielten. Nach dem Umbau von 1927 wurde auch in der Wohnung vieles renoviert, und jeder von uns bekam sein eigenes Zimmer.
Die Kche enthielt zwei Kchenschrnke fr milchiges und fleischiges Geschirr und einen grossen Tisch, alles aus 'pitch pine', zentnerschwer, und einen zweiteiligen grossen Herd: auf der einen Seite vier Flammen Gas und darunter ein mit Brikett heizbarer Bratofen. Auf der anderen Seite ein "Grudeherd", der nie ausging und sozusagen eine Kochkiste darstellte. Wozu - weiss ich nicht. Es gab nur einen "Ausguss" mit einem Kaltwasserhahn, abgewaschen wurde in Emaillewannen, in kochendem Wasser, mit Soda und Strohwisch - einige Lichtjahre vor den Detergents. Dass das Soda die Hnde zerfrass interessierte vielleicht nur die unmittelbar Betroffenen - und die wurden nicht gefragt. Auch im Badezimmer gab es kein warmes Wasser, wohl aber in den spteren Jahren ein grosses Waschbecken und Spiegel. Bis dahin wusch man sich morgends kalt im Schlafzimmer, am Waschtisch, im traditionellen Waschgeschirr (passender Set, Blumenmuster: Waschbecken, Wasserkanne, und dazu passender Nachtopf, absolut nicht nur zur Zierde). Dem wchentlichen Bad diente eine Badewanne mit (Brikett) heizbarem Badeofen. Der wchentliche Termin dafr war fr uns Kinder und Frulein Sonnabend abend, fr die Eltern Sonntag frh. Der Badeofen lieferte nach einer Stunde Heizen nicht mehr als ein Bad, dafr erhitzte sich das Badezimmer um so mehr - zur Sauna! Bis heute verstehe ich nicht, warum es nicht mglich gewesen wre, nach dem Umbau 1927 Warmwasserleitung in Kche und Badezimmer zu installieren; die technischen Voraussetzungen dafr existierten bestimmt schon zu dieser Zeit.
Ich trume nicht etwa von einer frstlichen Vergangenheit - wir waren weder reich, noch lebten wir wie reiche Leute. Aber man darf nicht vergessen, dass damals auch die mehr be- gterten Schichten einen viel einfacheren Lebensstandart lebten als heutzutage. Wir besassen kein Auto - wenige hielten sich eins, es sei denn im Geschft oder im Beruf, wie z.B. rzte. Fr die Meisten war das Verkehrsmittel die Eisenbahn, die mit gengender Frequenz verkehrte und beinahe berall hin gelangte. Auch in Berlin benutzte man nur selten ein Taxi und begngte sich mit U- oder S Bahn. Die Kleidung war betont einfach, Schmuck wurde vermieden. Ich kann mich kaum entsinnen, dass unsere Eltern ausgingen. Vielleicht einmal zu einer besonderen Auffhrung in Berlin, oder zu einer Veranstaltung, Familienfete oder Gemeindetreffen - oder zum Arzt. Man fand auch, ob zu Recht oder zu Unrecht, kaum Mglichkeit, vom Geschft fernzubleiben... Fr uns Kinder lag die Sache allerdings anders: es gab kaum einen Sommer, den wir nicht an der See oder im Gebirge verbrachten. Aber das gehrt schon zum Thema "Gesundheit", das wir hier noch ausfhrlich behandeln werden.
Wriezen, das Stdtchen, in dem wir aufwuchsen, hatte an die 7000 Einwohner, zum grssten Teile Arbeiter und kleine Beamte, Werksttten und einige kleinere Fabriken, und ein sehr weitlufiges Hinterland - das Oderbruch. Im Mittelpunkt des Oderbruchs stand die Zuckerfabrik Thringswerder, eine Schmahlspurbahn, die "Oderbruchbahn", verband die Dutzenden von Drfern mit Wriezen. Das Oderbruch hnelte etwas in der Art seiner Entwickelung den hollndischen Poldern. Zuckerrben stellten einen erheblichen Teil der landwirtschaftlichen Produktion dar, zur Zeit der Weltwirtschaftskrise und Zuckerberschssen nicht gerade ein einbringender Artikel. Wriezen war das geschftliche Zentrum fr das Oderbruch, mit seinen zahlreichen Geschften und Wersttten. Hier trafen sich die Kufer aller Schichten, die Landleute der Umgegend, die Arbeiter, die Beamten, besonders vor den Feiertagen, zu ihren saisonbedingten Einkufen. Im Grossen und Ganzen war die Bevlkerung wirtschaftlich nie besonders gut situiert, aber nach Ausbruch der Wirtschaftskrise von 1929 verschlechterte sich ihre Lage wesentlich.
Auf dem Marktplatz, unter der grossen Eiche, stand das Kriegerdenkmal vom Krieg 1870/71, Kaiser Wilhelm I hoch auf eisernem Ross, in die Lande druend, wie Tucholski so schn sagt. Hier versammelte sich an nationalen Feiertagen der Kriegerverein in Gehrock und Zylinder zur inneren Erhebung und Mahnung der Nachfahren. Diese scheinen sich die Mahnung tatschlich zu Herzen genommen zu haben, denn in den darauf folgenden Jahren wurde der Marktplatz mehr und mehr Ort fr Massenkundgebungen, weniger innerer Erhebeung, als dem Auslauf kochender Volkseele dienend.
Der Markt war von beiden Seiten von Huserreihen umsumt; die Ostseite schloss der Bahnhof ab, das Bahnhofsgebude mit anschliessendem Bahnhofsgarten, Restaurant und Biergarten, in dem wir manchmal einen Sommerabend verbringen konnten. Auf der Westseite stand das Rathaus. Daselbst residierten der Brgermeister, die Polizeiwache (der Brgermeister hchstselbst fungierte als Polizeibehrde). Der Brgermeister, Jurist von Beruf, war jahrelang angestellter Beamter der Stadtverwaltung und nicht etwa ein wohlsituierter Brger der Stadt und scheint auch nicht politisch ttig gewesen zu sein. Auf dem Dach des Rathauses war die Alarmsirene montiert, die mangels Luftalarm zu jener Zeit sich mit Feueralarm begngte. Ein brennender Mllhaufen oder eine halb verfallene Scheune lssten Feuerwarnung aus - letzteres nicht selten, wenn der Besitzer glaubte, sich mit der Versicherung einigen zu knnen. Um auch vllig sicher zu sein, dass die Sirene zu jeder Tages- und Nachtzeit funktionierte, drckte man vorsichtshalber jeden Mittag um Punkt 12:00 Uhr einige Sekunden auf den Knopf.
200 m westlich vom Rathaus, an der Kreuzung der Hauptstrasse, der Wilhelmstrasse, erhob sich die (protestantische) Kirche, St. Marien, wohl an die 700 Jahre alt. Ihr Glockenturm ragte an die 75 m in die Hhe, die untere Hlfte aus Stein, die obere aus Holz gebaut. Die Turmuhr schlug alle Viertelstunde. Der Kirche gegenber, 40 -50 m entfernt, stand unser Haus, ein Eckhaus, das die sdwestliche Ecke der Strassenkreuzung einnahm. Das Glockengelut am Sonntag Morgen strte uns nicht besonders; ein unerwarteter Telefonanruf, dass der Kirchturm in Brand geraten sei, war schon eher haarstrubend. Ein Kurzschluss im Glockenwerk soll den Brand verursacht haben, und die Aussicht, dass der brennende Turm ber unserem Haus zusammenstrzen knnte war gar nicht so unwahrscheinlich. Zum Schluss soll der Kster mit Hilfe eines Minimax den Brand gelscht haben - so schlimm kann's also nicht gewesen sein.
War der Markt wohl einen halben Kilometer lang, so erstreckte sich die Hauptstrasse, die Wilhelmstrasse ber dieselbe Entfernung. Dort befand sich der Grossteil der Geschfte, und am spten Nachmittag wimmelte es dort von Menschen. Fr die Jugend in ihren verschiedenen Alterstufen war die Wilhelmstrasse die Prommenade. Dort traf man sich, auch zu Zweien (wer es wagte), zu schchternen Annherungsversuchen eines stilisierten mating dance. Der Lehr- krper des stdtischen Gymnasiums verhngte allerdings eines Tages eine abendliche Ausgehsperre fr seine Schler, um dadurch eine weitgehendere Erledigung der Schularbeiten zu erreichen. Die Lehrer scheuten auch nicht vor einem Strassendienst, um die Durchfhrung der Sperre zu gewehrleisten.
Unsere Eltern behaupteten stets, dass Wriezen nach Ende des ersten Weltkrieges eine durchaus demokratische Stadt gewesen sei (ich persnlich glaube nicht recht daran). Das nderte sich aber bald. In den Industriegebieten und in den Grosstdten trugen die Gewerkschaften und Arbeitermassen die Fahne des Sozialismus. Die Arbeiterparteien bildeten die Mehrheit im politischen Spektrum. Die grosen Stdte waren auch die Zentren intellektller Aktivitt, der Geistes- und Naturwissenschaften, Kunst und Literatur. In der Provinz dagegen neigten der niedere Mittelstand und die Landbevlkerung, und auch die Landarbeiter eher nach Rechts. Waren Landarbeiter organisierte Kommunisten, so war dies mehr ein Ausdruck des Status als eine politische berzeugung (die Nazis als Populisten wussten das zu ntzen: sie nannten sich naionale Sozialisten...). Die kleinen Beamten und Ladeninhaber fhlten sich in der Weimarer Republik nicht daheim; sie wollten nicht die Gleichheit der Brger, sie wollten Authoritt und Hierarchie und ein konservatives Beamtentum. Gesellschaftlicher Fortschritt, Kultur und Wissenschaft sagten ihnen nicht viel. Sie sehnten sich nach dem blanken Knopf und dem glnzenden Stiefel des kaiserlichen Kommiss. Die Republik, das war etwas fr Juden und Intellektlle, die konnten jetzt tun und sagen, was in ordentlichen Zeiten kein Mensch gewagt htte zu tun und zu sagen. Die Republik existierte praktisch nur in den grossen Stdten; in der Provinz lebte man in der Vergangenheit.
Mochte der kleine Ladeninhaber von besonnter Vergangenheit trumen, mochte der Subalternbeamte seinem Vorgesetzten salutieren - der preussische Lehrer in der Provinz sah sich ausersehen als Siegelbewahrer geschichtlicher berlieferung, als Hter des Herdfeuers von Gott, Knig und Vaterland. Seine Arena war natrlich die Schule. Fr ihn war der (erste) Weltkrieg d a s s nationale Erlebenis, und nur Verrter am nationalen Gedanken verhinderten den Sieg, der erzgewiss. Es gab Lehrer, die ganz offen ihrer Verachtung der Weimarer Verfassung, die vor allen die Rechte des Einzelen und die Gleichheit vor dem Gesetz vertrat, Ausdruck verliehen. Diese Herren bersahen scheinbar, dass das deutsche geistige Denken des 18ten und Anfang des 19ten Jahrhunderts, auf dem sie das nationale Erbe des Reichs begrndet sahen, den Begriff der Nation berhaupt nicht kannte. Die deutschen Denker waren grsstenteils Kosmopoliten. Sogar die Volkserhebeung von 1848 kmpfte vor allem fr individlle Rechte und gegen den Feudalismus.
Auch die Juden strten. Der Antisemitismus war zwar keine ausgesprochene deutsche, sondern eine allgemein europische Erscheinung. Seit Generationen vernderte er sich und passte sich den jeweils herrschenden gesellschaftlichen und politischen Bedingungen an. Die Juden ihrerseits drngten sich nicht gerade, das Entreebillet zur europischen Zivilisation zu erwerben, das heisst sich taufen zu lassen, aber auch wenn sie es getan htten - die europ?ische Gesellschaft, und mit ihr die Deutschen, waren nicht so ohne Weiteres bereit die (getauften) Juden als gleichberechtigte Brger in ihre Reihen aufzunehmen. Die Juden wiederum fanden sich mit dem Antisemitismus mehr oder weniger als bestehende Tatsache ab. Theodor Herzl wollte sich nicht damit abfinden - und musste den Spott seiner Umgebung erleiden. Vorrangstellung in Wissenschaft und Kunst brachte den Juden wohl die Achtung ihrer Mitbrger ein, aber nicht ihre Liebe. Die Gesellschaft nahm stets, bewusst oder unbewusst, eine feindliche Haltung den Juden gegenber ein; wirtschaftlicher Erfolg schrnkten den anti- jdischen Antagonisms mit der Zeit etwas ein: es bildete sich so etwas wie ein Verhltnis von "trau, schau wem". In der Provinz und in weniger gebildeten Kreisen war die Ablehnung der Juden offener und unverhllter: von "einige meiner besten Freunde sind Juden" bis "die Juden bereichern sich auf Rechnung ihrer Mitbrger". Trotz Emanzipation galten die Juden in den Augen der Europer als Brger zweiter Klasse.
Rckgrat des deutschen Nationalismus blieb also die Provinz - und die Provinzpresse. Die Tatsache, dass jedes Stdtchen und jedes Dorf seine eigene Tageszeitung herausgab, unter- sttzte diese Entwickelung. Der Fhrer der Deutsch-Nationalen, Herausgeber und Besitzer des Verlags Scherl, nutzte das aus, um sich der Provinzpresse zu bemchtigen. Eine geniale Erfindung ermglichte ihm das, nhmlich sein "Materndienst", die Pappmatrizen, die tglich an die Redaktionen der Provinzbltter geliefert wurden und die bereits die ganze Zeitung enthielten, vom Leitartikel bis zu Kochrezepten und Wettervorhersage, und nur einige Spalten fr Lokalnachrichten freiliessen - und natrlich den Kopf des betreffenden Blattes. Lokale Nachrichten und Annoncen eingesetzt, brauchte man nur die Pappmatrizen auszugiessen, und schon hatte man eine - natrlich nationale - Tageszeitung so ganz nach dem Herzen der Leserschaft. Keiner zerbrach sich den Kopf darber, dass alle diese Blttchen nicht mehr als ein einziges Faksimile darstellten. Historiker bertreiben nicht, wenn sie andeuten, dass es der Materndienst von Scherl war, der Hitler den Weg zur Macht bahnte.
An eine demokratische Umgebung in Wriezen kann ich mich also nicht erinnern. Fr mich war alles, was ausserhalb der eigenen vier Wnde lag, feindliches Territorium. Ich nehme an, dass zu dem bodenstndigen, beinahe "natrlichen" Antismitismus ein gesundes Mass von Klassenhass dazukam. Meine Eltern merkten davon nichts, richtiger, sie machten sich nicht wissen. Dennoch distanzierten sie sich absolut von ihrer nichtjdischen Umgebung - bis zur berheblichkeit. Fr sie war das nichtjdische Milieu G.N., Abkrzung aus den Jiddischen "Gojim Naches" (ðçú ùì âåéí), alles was den Gojim Spass macht. Mit anderen Worten etwa: "Seht nur, womit die sich amsieren!". Kulturelle Klassenarroganz als Reaktion auf Gesellschaftsantisemitismus. Die Philharmoniker gegenber dem Bierlokal! Natrlich war das keine Sache der Bildung. Die Nichtjuden waren, was Bildung anlangt, den Juden keinesfalls unterlegen; es war nichts mehr als die bekannte Kompensation des Minderwertigkeitskomplexes: der berwertigkeitkomplex.
Als ich heranwuchs sprach ich einmal mit unsern Eltern darber; sie antworteten ungefhr so: "Was wisst ihr Kinder schon vom Leben! Wir, Euere Eltern, sind zwischen Feindseeligkeit und Hass aufgewachsen und haben gelernt, damit fertig zu werden. Wir haben uns ein dickes Fell zugelegt. Sich mit gesellschaftlichen Antisemitismus abzufinden ist kein zu hoher Preis dafr, hier leben zu knnen. Wo ist das verheissene Land, wenn nicht hier? Wohin wir auch gehen wrden, ginge es uns wesentlich schlechter. Stolz ist ein Luxus, der nicht einen Pfennig einbringt..." Sie erzhlten, wie es einer von Pappas Nichten erging, die sich verheiratete und in den 20iger Jahren nach den U.S.A. auswanderte: das junge Paar musste seinen Namen ndern und durfte sich keinesfalls als Juden ausgeben, sonst htte man ihnen (ausserhalb New York) keine Wohnung vermietet. "Das ist das, was uns drben blht? Soweit sind wir hier doch noch nicht!". Und Palstina mag wohl das Land sein, wo Milch und Honig fliesst - aber wer kann schon von Milch und Honig existieren?
Die jdische Gemeinde in Wriezen zhlte an die 25 Familien, die alle mehr oder weniger gut situiert waren, Geschftsinhaber oder Hndler. Ein Vertreter der freien Berufe war zufllig nicht unter ihnen. Der Beginn der Gemeinde geht bis ins 18te Jahrhundert zurrck, als Friedrich der Grosse die erste jdische Familie nach Wriezen einlud, wo sie daselbst eine Seidenindustrie grnden sollte. Zu diesem Zwecke bepflanzte man beide Seiten der Friedrichstrasse mit Maulbeerbumen, in deren Laub man die Seidenraupen zchten wollte. Wie Anderorts, so war auch in Wriezen dieser Versuch, scheinbar aus klimatischen Grnden, zum Scheitern verurteilt. Der Verlust jedoch belastete den Staatssckel kaum: die Juden mussten ihn aus eigener Tasche bezahlen. Soweit zu den Entwickelungsprojekten jener Zeit.
Unter den mehr bekannten Mitgliedern der wriezener Gemeinde wre die Familie Bleichrder zu nennen, deren Nachfahren, Grnder der "Preussischen Staatsbank & Seehandlung", Bismarck den Krieg von 1870/71 finanzierten (vor Grndung der Reichsbank). Ihre Grabsteine gehrten zu den prominentesten des mehr als 200 Jahre alten jdischen Friedhofs am Rande der Stadt. Von einer Mauer aus Feldsteinen umgeben, mit einen grossen eichernen Tor, immer etwas schief in seinen Angeln, die alten Grabsteine zum Teil verwittert und versunken, Bume, so alt wie der Friedhof selbst, und blhende Strucher im Sommer - und tiefe Stille und Ruhe, auch im Rauschen der Bume und Zwitschern der Vgel. So ist mir der Friedhof in Erinnerung geblieben, immer ein wenig geheimnisvoll und weitab vom Getriebe der Welt.
Die Synagoge, so wie ich sie kannte, wurde in den 80iger Jahren des vorigen Jahrhunderts erbaut. Der Bau war nichts Aussergewhnliches; Architektur und Innereinrichting spiegelten Stil und Geschmack der damaligen Zeit wieder. Die Holzbnke und Pulte waren grau angestrichen, eine dreiseitige Galerie, eine Treppe hoch, war den Frauen eingerumt. Die religise Frbung der Gemeinde wre wohl heute als 'konservativ' zu bezeichnen - auf keinen Fall jedoch als orthodox. Einen Rabiner hatte die Gemeinde nicht, aber einen 'Chasan', einen Kantor, angestellt mit einem bescheidenen Gehalt. Andachten fanden ausser an den Feiertagen, nur am Freitag Abend und Sonnabend statt - unter der Bedingung, es fand sich der ntige 'Minjan' dazu ein. Zur Synagoge gehrte auch ein zwei- stckiges Wohnhaus. Die Wohnung im Erdgeschoss bewohnte der 'Schamasch' der Gemeindediener, ein Nichtjude, der sich sein karges Gehalt durch Schuhflicken ergnzte; die Wohnung im oberen Stockwerk war dem jehweilig amtierenden Chasan vorbehalten.
Einen jdischen Fleischer, der einen streng koscheren Fleischerladen fhrte, gab es in Wriezen nicht. Es bestand ein Abkommen mit einer Fleischerei, die nach Bedarf der Gemeinde ein Rind zur koscheren Schlachtung (durch den als Schochet fungierenden Chasan) zur Verfgung stellte. Ein besonderes Risiko ging der Schlchter dabei nicht ein: die Juden waren schliesslich nicht seine einzigen Kunden. Das koscher geschlachtete Fleisch wurde nicht getrennt gehalten, sondern, wie alles andere auch, ber den Ladentisch verkauft. Die Hauptsache es war koscher... Nur ein Teil der Mitglieder der Gemeinde achteten auf Kaschrut, oder hielten berhaupt etwas, sodass niemand an der bestehenden Ordung Anstoss nahm.
Der Chasan amtierte auch als Religionslehrer. Religion war vom Lehrplan der deutschen Schule nicht wegzudenken; mindestens zweimal in der Woche war eine Stunde festgesetzt. Die jdischen Kinder nahmen natrlich am Religionsunterricht nicht teil; an Stelle dessen sorgte die Gemeinde dafr, an Nachmittagen, fr alle Alterstufen, sowie auch fr Vorbereitung zur Bar-Mizva. Der Religionsunterricht befasste sich weniger mit Religion, als mit ihren usseren Attributen. Man lernte etwas biblische und jdische Geschichte, das eigentliche Ziel des Unterrichts aber war, die Gebete lesen zu lernen. Wohlgemerkt lesen, beileibe nicht verstehen. So lernten wir also mit sechs Jahren Herbrich lesen, ohne ein Wort davon zu verstehn, was wir lasen. Die deutsche bersetzung des Textes, auf der benachbarten Seite im Ssidur oder Machsor, sagte uns nicht viel. Um die Schnheit der mehr als tausend Jahre alten Psie zu begreifen, gehrt ein wenig mehr als das Aleph-Beth. Spter lernte ich auch Schreiben. Lesen und Schreiben, die Grundlagen jeder Sprache, wurden mir somit beigebracht, sehr ntzlich und zeitsparend, als ich mit 18 Jahren hebrisch als Sprache zu erlernen begann.
Die Observanz religiser Vorschriften, insbesondere die Heiligung des Shabbat, war der Auslegung eines Jeden berlassen, entsprechend seinen Neigungen und (wirtschaftlichen) Interessen. Die Hohen Feiertage, Rosch Haschana und Jom Kipur, wurden von Allen mehr oder weniger gehalten, inklusive Schliessung des Geschfts und (teilweises) Fasten. An den restlichen Feiertagen und Sonnabenden blieben die Lden offen, wenn auch ein Teil den Gottesdienst in der Synagoge besuchte. Zu Purim kam man, um die Megila zu hren, an Ssimchat Tora warfen die Frauen von der Gallerie whrend des grossen Umzuges Bonbons auf die Kinder, und wir wurden zur Tora aufgerufen, um angstvoll stotternd die Bracha aufzusagen. Sseder Pessach hielt jeder ab, an zwei Abenden, mit îä ðùúðä - vllig unbegreiflich, warum etwas anders sein sollte, und warum man Meerrettich schlucken muss, wenn man sich gern mit Charosset begngt htte. Aufbleiben durfte man allerdings lnger - Lel Schmurim oder nicht - so hatten Herren in Bne Berak den Brauch eingefhrt, in Wriezen aber mit weniger als zum ÷øéàú ùîò ùì ùçøéú; morgen war auch noch ein Tag. Und das, nachdem man "nach Belieben gespeisst" hatte, so war es in der Hagada verzeichnet. Religion mit Schmausen zu verbinden, das haben wir von den alten Griechen gelernt. Die mgen sich auf die linke Seite gelehnt zu haben, um den grssten Teil des Bechers zu trinken - Borscht und Matzeklssel aber stammen sicher von stlich der Oder-Neisse Linie.
Die gesellschaftliche Aktivitt der wriezener jdischen Gemeinde war begrenzt. Einmal im Jahr, zu Purim oder zu Chanuka, veranstaltete die Gemeinde ihren "Ball", meistens bei Blascheck, eines der grsseren Cafes am Platz. Dar?ber hinaus pflegten unsere Eltern kaum gesellschaftlichen Verkehr, es sei denn mit einem lteren Ehepaar, dass man gelegentlich besuchte. In fruheren Jahren allerdings entsinne ich mich, das manchmal bei uns ein Diner stattfand, zu dem ausgewhlte Ehepaare eingeladen wurden und bei dem sogar nach Schallplatten getanzt wurde. Natrlich hatten wir Kinder zu Veranstaltungen dieser Art keinen Zutritt. Einen eigenen Bekanntenkreis hatten wir, bis wir ins Gymnasium kamen, nicht.
Kehren wir zurrck in unser Haus. Unser Haus war ein Eckhaus. Unsere unmittelbaren Nachbarn waren einerseits die Knabenvolksschule (die Grundschulen waren fr Jungens und Mdchen getrennt), auf der anderen Seite, der Ratsstrasse, das Schuhgeschft des Ehepaars Bierbach, die, wie wir, im zweiten Stock ber ihrem Laden wohnten. Unsere Beziehungen waren whrend der ganzen Jahre, bis zum Schluss, korrekt. Einem stillschweigenden ?bereinkommen gemss fhrten wir in unserem Geschft keine Schuhe und sie bei sich keine Strmpfe. Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir sie jemals aussergeschftlich besuchten, oder sie uns - aber das war unser Verhltnis auch zu allen anderen nichtjdischen Mitbrgern. Die unsichtbare Grenze wurde nichtberschritten: die Mauern des Ghetto waren zwar aus Glass, aber dennoch Mauern.
Wir waren immer unter der Obhut von Kinderfruleins. Im vierten Lebensjahre kam eine zu uns mit Namen Hedwig Laut, an die dreissig, vielleicht weniger. Einige Jahre zuvor hatte sie in England eine Stelle gehabt. Wir htten bei ihr gut Englisch lernen knnen; mit vier Jahren ist das kein grosses Problem. Einige Worte brachte sie uns bei, wie z.B. "ticket", oder zu antworten auf die Frage, ob wir manchal ungezogen sind: "some times". Unsere Eltern scheinen aber keinen besonderen Wert auf derartige Errungenschaften gelegt zu haben. Hedwig war vollschlank und erklrte uns ausfhrlich die anatomischen Einzelheiten ihrer usseren Erscheinung. Sie verdrosch uns auch, doch das war absolut im Rahmen der damaligen pdagogischen Auffassung.
Es war das Jahr 1921. Deutschland versuchte sich nach den Jahren des Krieges wieder aufzurichten. Die Unterernhrung, hervorragend in allen am Krieg beteiligten europischen Lndern, hatte die Menschen schutzlos gegen auftretende Epedemien gemacht. Die Spanische Grippe (heute asian flu) raffte Hunderttausende dahin, und nicht weniger die Tuberkulose, gegen die es noch keine Medikamente gab. Man wusste noch nichts von antibiotics; die fortgeschrittenste Technik war der Pneumothorax, das Stillegen einer Lunge zum Ausheilen der Kaverne, dazu gute, kalorienreiche Ernhrung und viel Ruhe, ausgesetzt ultravioletter Strahlung - im Gebirge oder von der Quarzlampe. Wer es sich leisten konnte.
Nach einer Grippe im Winter 1920/1 wollte sich Mamma nicht recht erholen und nach lngerem hin und her konstatierte der Arzt einen Lungenspitzenkatarrh. Die Warnlampe leuchtete auf, sofortiges Eingreifen war geboten. Empfohlen ward der Zauberberg, in diesem Falle das Lungensanatorium des Herrn Professor Backmeister in St. Blasien, im Schwarzwald. Man sprach von einer Kur von mindestens drei Monaten.
Mamma zerbrach sich den Kopf, was sie mit uns Kindern anfangen sollte. Sie hatte kein rechtes Vertrauen in Frulein Hedwig, englischer Sprachkenntnisse ungeachtet. Es wurde daher beschlossen, uns alle mit in den Schwarzwald zu nehmen. Ab ging die Reise, nach Sden. bernachten musste man in Frankfurt a/M, nach einer Tagesreise von Berlin, im Hotel, und fr uns furchtbar aufregend. Am nchstenn Tage gings weiter, in Richtung Freiburg. Im Zuge waren wir sehr unruhig, es juckte uns am ganzen Krper. Nhere Untersuchung ergab, dass wir von Kopf bis Fuss von Wanzen zerbissen waren. Es scheint damals die Menge der Wanzen im direkten Verhltnis zur Anzahl der Sterne des Hotels gestanden zu haben. Der Kommentar meiner Mutter: "Die Zeil war schon immer verwanzt" klingt mir noch heute in den Ohren, wenn ich die Zeil hinunter laufe.
Die Reise schien uns damals endlos. Von Freiburg mit einer Kleinbahn, der 'Hllentalbahn', bis nach Titisee, ber schwindelerregende Brcken und dunkele Tunels, und die letzte Strecke noch per Autobus ber schmale Strassen und Haarnadelkurven. Und dann St. Blasien, mit Kloster und Klosterkirche, und ber allem, jeder Zoll ein Zauberberg, das Sanatorium.
Wir wurden mit Frl. Hedwig zunchst in eine Pension einquartiert. Mamma begab sich schnurstraks zum Herrn Professor in die Sprechstunde. Am nchsten Tage wurden wir daselbst zum Rntgen bestellt. Der grosse Professor empfing uns in seinem Rntgenlabor, gekleidet eher wie ein Dorfschmied, mit riesiger Lederschrze, Handschuhe bis an die Ellbogen und Schweisserbrille. Die Untersuchung sollte nur versichern, dass wir uns noch nicht angesteckt hatten. Darber hinaus soll der grosse Professor meine Mutter gefragt haben, ob sie noch alle ihre Sinne beisammen htte, uns Kinder direkt in den Herd der Ansteckung mit zu schleppen. Sie versprach, uns unverzglich wegzuschicken, Hedwigs Vertrauenswrdigkeit ungeachtet.
An das, was dann kam, erinnere ich mich nicht mehr genau: noch eine endlose Reise, diesmal im Schlafwagen-Express nach Berlin. Dort erwartete uns Pappa und verfrachtete uns in einen anderen Express, nhmlich nach Kolberg, an der Ostsee. In Kolberg waren wir schon frher; ich fand uns in einem Bild von dort, vom Sommer 1918. In Kolberg mieteten wir uns ein Zimmer, wo und was wir assen, weiss ich nicht mehr. Hedwig scheint sich unsertwegen nicht viel graue Haare gemacht zu haben, sondern sorgte vor allem fr ihr persnliches Amusement. Scheinbar muss unsere Zimmervermieterin etwas darber nach Hause berichtet haben; jedenfalls erschien eines Tages Tante Betty, eine jngere Schwester meines Vaters, damals noch unverheiratet, und bernahm kurzerhand das Kommando.
See und Strand waren damals nicht viel anders als heute auch. Wir spielten im Sand mit Eimerchen und Lffel. Gebadet werden wir wohl nicht zuviel haben, das Wasser war meistens zu kalt. Aber Schlagsahne konnten wir bereits ins Cafe essen gehen - die Milch war von diesem Sommer ab wieder zur Bearbeitung frei gegeben worden.
Kurz nachdem wir wieder zu Hause angelangt waren, kehrte auch Mamma frisch und gesund von ihrer Kur aus dem Schwarzwald zurrck. Als erstes wurde Hedwig an die Luft gesetzt, and dann wechselten sich fr eine Weile die Kinderfruleins bei uns ab. Im Winter 1921/22 empfahl dann eine von Mammas Schwestern aus Breslau zwei junge Mdchen aus der breslauer Umgegend, die einen gemeinsamen Arbeitsplatz suchten - die eine als Haushlterin, als 'Sttze', wie man so zu sagen pflegte und die andere als Kinderpflegerin. Die Anstellung wurde ohne jede weitere persnliche Fhlungnahme schriftlich perfekt, und man erwartete die Beiden Ende Januar oder Anfang Februar. Am Tage ihrer Ankunft klingelte am Nachmittag das Telefon: sie waren in Frankfurt/Oder, zwei Drittel des Weges von Breslau, stecken gegeblieben; Schneewehen hatten den Eisenbahnverkehr unterbrochen. Ich sehe noch, wie mein Vater das rtliche Taxi anrief (ich betone "das" Taxi, vielmehr existierten nicht). Kurz darauf stand es bei uns vor der Tr. Pelze, Decken und Bettwrmer wurden eingeladen. Der Wagen, ein Modell der 20iger Jahre war offen, mit aufklappbarem Dach. Mit besten Wnschen fr heile Wiederkehr machte er sich auf den Weg durch Schnee und Eis. Wir wurden natrlich schlafen gelegt, aber bis heute habe ich nicht vergessen, wie wir durch den Lrm des ankommenden Autos aufwachten, weit nach Mitternacht. Ausstiegen Lisbeth Grochol und Gertrud Bernaisch, nachmals Kick, die ihr Schicksal mit unserem verknpfte, bis zur letzten Stunde auf deutschem Boden, ein Band, das nie riss, bis zu ihrem Hinscheiden in den 60iger Jahren.
Vielleicht kann man bei dieser Gelegenheit ein wenig ber den Begriff "Haushalt" reden. Seit Generationen hat man Hausangestellte beschftigt, in den Kreisen, die sich das leisten konnten. Bei Kindern arbeitete eine Amme, Pflegerin oder Gouvernante, je nach Alter der Kinder. Im Haus, Haushlterin oder Kchin, je nach Status der Arbeitgeber. Als unterste Stufe kam jemand fr "die groben Arbeiten". Noch Mitte des 19ten Jahrhunderts beschftigte eine Familie des Mittelstandes mindestens zwei bis drei Hausangestellte, im Haus und bei den Kindern. Das nderte sich auch nicht mit Beginn des 20ten Jahrhunderts, da zu dieser Zeit bereits viele Frauen entweder selbstndig oder im Betrieb ihres Mannes ttig waren. Die Angstellten selbst kamen vom Lande oder aus den kleinen Stdten der Umgegend, grsstenteils aus schlechten wirtschaftlichen Verhltnissen.
Im Vergleich zu heute fhrte man den Haushalt reichlich primitiv. Die Kche habe ich bereits erwhnt. Teppiche wurden im Hof mit dem Handklopfer geklopft. Erst um 1930 wurde ein Staubsauger angeschafft. Im Hof war auch die Waschkche, daselbst ein grosser kupferner Waschkessel, mit Holz zu heizen. Zur 'grossen Wsche', die zwei Tage dauerte, wurde eine Waschfrau zustzlich engagiert. Im Hof zog man auch die Leinen zum Aufhngen der Wsche. Die weisse Wsche wurde gestrkt und gemangelt (gerollt) in einer handangetriebenen Wscherolle, irgendwo in der Stadt, wohin man mit Hilfe des "Hausdieners" die Wsche schleppte. Gebgelt wurde zu Hause, "in der freien Zeit" zwischen den laufenden Arbeiten.
Die Arbeitsbedingungen waren: Wohnen und Essen am Platz, alle 14 Tage einen Sonntag Nachmittag frei oder einen Abend in der Woche; Heimaturlaub mit Retourbillet nach Abmachung. Krankenkasse und Sozialversicherung wurden vom Arbeitgeber lt. Gesetz getragen. Es wurde auch fr Arbeitskleidung gesorgt.
Wie die franzsische und spter die industrielle Revolution das Heer der dienstbaren Geister im Haushalt einschrnkte, so nderte der zweite Weltkrieg im Westen den Begriff der stndigen Hilfe in privaten Haushalten. Steigender Lebensstandart und wachsende Bildung breiter Schichten sorgten fr Zustrom zu den nach Arbeitskrften hungerigen Handel, Gewerbe und Industrie. Die Zahl der im Haushalt Arbeit Suchenden sank, und das gesteigerte Lohnniveau ermglichte nur Wenigen sich feste Hilfe im Haushalt zu halten. Haushaltshilfen begannen nach Stunden zu arbeiten, im Allgemeinen bei der 'Raumpflege'. Aber die Technik war inzwischen dem Haushalt zu Hilfe gekommen, in Form von Staubsaugern, Waschmaschinen, Geschirrsplern, aber auch durch funktionelle Mbelgestaltung, leicht zu pflegende Vorhang- und Mbelstoffe an Stelle von Gardinenspannerei. Vielleicht auch eine neue Einteilung von Haushaltspflichten zwischen Mann und Frau, grssere Selbststndigkeit der Kinder. Kindergarten und Vorschule gehren heute zur Schulpflicht. Oh tempora oh mores, wie die alten Rmer schon sagten - andere Zeiten, andere Sitten!