Ich bin am 14. Maerz 1916
geboren, in Wriezen a/O, 70 Km. stlich von Berlin .
Meine Eltern waren Juden, dem Mittelstand zugehrig. Sie waren nicht
Ortsansaessige, sondern kamen aus anderen Gegenden Deutschlands. Ueber ihre
wirtschaftliche Situierung weiss ich wenig, noch, mit welchen Mitteln sie ihr
Unternehmen grndeten und das Haus erwarben; reich waren sie sicher nicht. Ich
nehme an, die Mitgift meiner Mutter und die blichen Anleihen und Hypotheken
halfen ihnen, sich zu basieren.
Mein Vater wurde 1882 in einer kleinen Stadt,
in Landsberg, Ostpreussen, geboren, als dritter von drei Shnen, in der ersten
Ehe seiner Mutter. Sein Vater, mein Grossvater, kam nach Landsberg aus dem
zaristischen Russland. Er flchtete von dort, um dem Militrdienst
zu entgehen, der damals fr die dafr Ausgehobenen 20 Jahre whrte - ein Unglck
fuer den Betroffenen. Juden entgingen dem Militaerdienst im Allgemeinen durch
Flucht, grsstente Erinnerungen sind nicht immer wehmütiges ils nach Deutschland. (Das heisst nicht, dass sich alle Juden
in Russland dem Militrdienst entzogen; es waren aber meist die assimilierten
Kreise, die dazu bereit waren). Mein Grosvater, Max Radzewski, kam aus einem
Stdtchen in der Nhe der deutsch-russichen Grenze, Racionz. berlieferungsgemss
soll hier der Ursprung des Namens Radzewski zu suchen sein. In Landsberg
ehelichte Max Radzewski die 16 jhrige Tochter einer der dort
ansaessigen jdischen Familien, meine Grossmutter. Sie gebahr ihm drei Shne:
Willy, der im ersten Weltkrieg in Frankreich fiel, Oskar und meinen Vater. Im
Alter von nicht viel ber 20 Jahren raffte ihn ein Herzschlag dahin. Meine
Grossmutter heiratete ein zweites Mal, ebenfalls einen Witwer, Kuschinsky mit
Namen, der selbst drei Kinder in die Ehe brachte. Im Laufe der Jahre kamen dann
noch fnf Kinder hinzu, Jungens und Mdels. Allem Anschein nach verdiente
Kuschinsky seinen Unterhalt nicht viel anders als Grossvater Radzewski vor ihm:
als Hausierer in den umliegenden Doerfern. Elf Sprsslinge aufzuziehen, keine
leichte Aufgabe fuer eine Familie, die nicht mit bergrossem Einkommen gesegnet
ist. Trotz allem erinnere ich mich, meinen Vater immer von seinem Elternhaus als
warm und aufgeschlossen reden zu hren. Seine Mutter, meine
Grossmutter, war, was man eine 'Leseratte' nannte. Mein Vater schilderte sie
immer am Herd sitzend, in einer Hand den Kochlffel zum Umrhren, mit dem Fuss ab und zu der Wiege
mit dem jehweiligenn Baby einen Schubbs gebend, und auf den Knien ein Buch. Man
sagt, das dieses Arrangement garnicht schlecht funktionierte... Wie dem auch sei
- ich selbst kann mich gut entsinnen, dass Grossmutter Kuschinsky bis zu ihrem
Tode im Alter von 72 Jahren ihre Bcher verschlungen hat.
Die Bildung, die das Stdtchen seinen Kindern vermitteln
konnte, waren sieben Klassen Grundschule. Schulpflicht bestand fuer die
Altersklassen von sechs bis vierzehn. Das letzte Schuljahr also musste zwei mal
in der letzten Klasse absolviert werden - nach damaliger Klassenordnung die
erste Klasse. Wenn man nicht zu den begterten Schichten gehoerte, die ihre
Kinder ins Gymnasium nach Ausserhalb schicken konnten, oder vielleicht sogar auf
die Universitt, wozu nur wenige im Stande waren, dann hatten diejenigen, die die
rtliche Volksschule beendeten, die Wahl zwischen einer Lehrstelle im Handwerk,
im Handel oder als Beamter. Fuer die jdische Jugend war die bliche Laufbahn die
Lehre in einem der jdischen Lden in den umliegenden Stdtchen - mit Wohnen und
Verpflegung am Platz und einem Taschengeld. So auch fr meinen Vater.
Ich habe keinesfalls die Absicht eine Soziologie der
preussischen Juden in der zweiten Haelfte des 19. Jahrhundert zu schreiben. Das
haben mehr dazu Berufene schon vor mir getan. Ich versuche lediglich die
gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Grundlagen dieser Zeit zu beleuchten.
Der grüsste Teil der Juden ausserhalb der grossen stdtischen Zentren lebten vom
Kleinhandel. Im Laufe der Jahre fundierten sie sich wirtschaftlich, ihr Shne
verliessen das Elternhaus auf der Suche nach Bildung oder weitgreifender
Unternehmen. Die Grndung des deutschen Reiches im Jahre 1871 erffnete eine
beispiellose wirtschaftliche wie kulturelle Bltezeit. Zwar war die preussische Mentalitt nicht
ausgesprochen der Demokratie zugeneigt, wenn auch an der Spitze des deutschen
Reiches, theoretisch wenigstens, eine konstutionelle Monarchie stand. Nach der
Vereinigung der Lnder aber war Preusssen nicht mehr in allem absolut allein
bestimmend. berdies sorgten wachsende liberale Kräfte, und vor allem die sich
rapide strkende Sozieldemokratie, fr Bewusstsein der Rechte des Individuums und
der Gedankenfreiheit.
ffentliche Sozial- und Krankenversicherung wurden eingefhrt,
getragen durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer in dem auch noch heute blichen
Verhaeltnis. Die Freiheit der Presse war fr damalige Zeit relativ grosszgig. In
den schnen Knsten, in der Musik und Literatur, fhrten die fortgeschrittenen
Krfte und die Avant Garde. Deutschland wurde das Weltzentrum von Wissenschaft
und Kultur. Die dunkeleren Seiten der deutschen Psyche und mit ihr der Aufstieg
der Nazis lagen noch weit im Nebel der Zukunft.
Die Emanzipation der Juden begann natrlich
nicht mit der Reichsgrndung. Whrend der Aera Napoleons, aber hauptsaechlich in
der Epoche nach ihm, begannen sich die preussischen Juden der europischen Kultur
zu ffnen. Es gab da verschiedene Einstellungen dazu: Einige der fuehrenden Kpfe
suchten die Tradition innerhalb der vier Wnde des Hauses zu bewahren, aber
erstrebten eine weitgehende Assimilation nach aussen hin. Heinrich Heine
seinerseits sah in der Taufe das 'Entreebillet zur europischen Kultur'. Andere
wieder glaubten sich mit Assimilierung ohne Taufe begngen zu knnen. Auch in
orthodoxen Kreisen, die bis dato jeglichen kulturellen Kontakt mit der Umwelt
strikt ablehnten, regten sich Stimmen, die ãøê àøõ òí úåøä, d.h. das
traditionelle Talmudstudium zusammen mit allgemeiner Bildung fr unerlsslich
hielten (auf sie blickten viele der îùëéìéí in Osteuropa, die sich vom Joch
stagnierter berlieferung befreien wollten). Aber die intellektuellen Schichten
waren schon darber hinaus gewachsen. In Berlin
hielt die Jdin Rahel Varnhagen ihren berhmten 'Salon', in dem sich hervorragende Kpfe der Zeit, Knstler
und Denker, trafen. Der berliner Schriftsteller Georg Herrmann schildert in
seien Romanen `Jettchen Gebert' und denen darauf folgenden die
Auseinandersetzung zwischen Tradition und Assimilation der Juden Berlins
in dem Zeitraum von 1820 - 1870.
Berlin, Reichshauptstadt, kosmopolitische Metropole, damals
schon sicher mit mehr als einer Million Einwohnern, bte eine magische
Anziehungskraft auf die jdische Jugend in den Stdten und Drfern der entlegenen
Provinzen aus. Die grossen Warenhuser bestanden schon, und daneben tausende von
kleinen und mittleren Unternehmen. Wenn auch die sozialen Bedingungen fuer die
damalige Epoche relativ fortschrittlich waren, so waren die Arbeitsbedingungen
selbst mehr als rckstndig. Der Kampf der Industrie- und Grubenarbeiter um den
acht Stunden Tag und menschenwrdige
Lhne und Arbeitspltze brachte den Angestellten im Handel keineswegs den
Fortschritt - die berdies zum berwiegenden Teil noch nicht einmal organisiert
waren. Ihr Arbeitstag whrte 11 Stunden, mit einer Stunde Mittagspause. Ich bin
auch nicht sicher, ob die Juden unter den `Werkttigen im weissen Kragen' so wild
darauf waren, Gewerkschaften zu grnden; sie waren wohl eher daran interessiert,
sich wirtschaftlich zu basieren und in absehbarer Zeit selbststndig zu werden.
(Die Juden in den Arbeiterbewegungen waren zumeist Intellektuelle, Angehrige
freier Berufe, Politiker, im Allgemeinen assimiliert - aber gewiss nicht
Arbeiter oder Angestellte. Im Gegensatz zu Ost-Europa gab es in Deutschland kein
jdisches Proletariat). Das Angestelltenverhltnis war im Grunde genommen im
Tagelohn, auf Basis tglicher Kndigung. Die Gehlter wurden am ersten jedes Monats
ausgezahlt.
Nach Beendigung seiner Lehrzeit in einer der Kleinstdte
Ostpreussens fand mein Vater Anstellung in dem berliner Warenhaus Jandorf, durch
Empfehlung oder Vermittlung, wie damals blich. An seinem ersten Arbeitstag,
Frhmorgens, stellte ihn Herr Jandorf, der Boss, dem Personalchef mit folgenden
Worten vor: "Hier haben Sie noch jemanden, den Sie morgen frh an die Luft setzen
knnnen!". Und unter diesen Bedingungen, sozusagen als Tagelhner, arbeitete mein
Vater dort an die sieben Jahre. Er stieg in der Hierarchie des Personals auf,
und im Laufe der Jahre knpften sich sogar persnliche Beziehungen zu Herrn
Jandorf an; ich glaube, dass auch weitere Mitglieder der Verwandtschaft ihre
Laufbahn bei der Firma Jandorf begannen (Wenn ich mich nicht irre, so war Leo
Levin aus Pillau einer der letzten der Familie, der dort 'volontierte').
Ein Teil des Gehalts bestand aus Prmien, als Ergnzung zum
festen Gehalt. Prmien waren ausgesetzt fuer den, forcierten, Verkauf diesen oder
jenen Artikels. Feste Preise kannte man noch nicht. Ein Minimum Preis war in
Code auf dem Etikett verzeichnet - darueber hinaus wurde gehandelt. (Feste
Preise wurden in Deutschland nicht vor 1910 eingefhrt; als ich 1937 nach Holland
kam, gab es Lden ohne feste Preise. Hier im Land wurden feste Preise erst nach
1948 gesetzlich bestimmt). Das Einkommen eines Verkufers war also zum grssten
Teil bedingt durch sein Verkaufstalent - und somit seine Karriere.
Der Lebensstandart dieser ersten Jahre war dem
Einkommen angepasst: ein gemietetes Zimmer, vielleicht zusammen mit einem
Kollegen, Essen
an einem (jdischen) Mittagstisch. Die schumende, tosende Grosstadt bot nicht nur
Abwechselung sondern sorgte vor allem fr Erweiterung des geistigen Horizonts: Kontakt
mit gebildeten Menschen, Vortrge, politische Versammelungen, Bcher, Musik, Oper
und Theater. Eintrittskarten waren billig zu erstehen, wenn man sich zum
Beifallklatschen verpflichtete, d.h. sich der `Claque' anschloss, jener Gruppe
bezahlter Beifallsklatscher, angestellt von Regie und Direktion, ein zgerndes
Publikum durch anhaltendes Klatschen zu strmischem Beifall zu begeistern -
manchmal an voraus bestimmten Stellen, oder allein, wenn alle Strnge rissen und
die Zuschauer revoltierten und pfiffen. Claquen waren besonders wichtig bei
Ertauffhrungen junger oder umstrittner Schriftsteller, deren Aufnahme durch das
Publikum nicht von vornherein gesichert schien. Man ging von der Annahme aus,
dass rauschender Beifall auch die Kritk mitreissen wrde, was nicht unbedingt
seine Richtigkeit hatte. Mein Vater behauptete jedenfalls, er selbst htte wenig
Probleme damit gehabt; junge Menschen beeindrucken und begeistern sich leicht.
Ueber den Freundes- und Bekanntenkreis meines
Vater weiss ich so gut wie garnichts. Ich entsinne mich
nur, dass wir als Kinder mit unserer Mutter in einem der bekannteren berliner
Cafes sassen, und die Inhaberin an unseren Tisch herankam und Grsse an unseren
Vater ausrichtete. Mamma erklaerte uns, dass diese Dame, recht rundlich brigens,
zu Pappas Bekanntenkreis "von damals" gehrte. Darueber hinaus aber entsinne ich mich
nicht, dass Bekannte vergangener Zeiten bei uns vorsprachen.
Mein Vater kam um den obligatorischen Militrdienst dadurch
herum, dass
seine Kr-permasse nicht denen der Musterkommission gengten. Das
Menschenreservoir der deutschen Armee war gross genug, um whlerisch zu sein. Die
Dienstpflicht dauerte zwei oder drei Jahre, wer jedoch die `Mittlere
Reife'-Pruefung bestanden, d.h. Untersekunda absolviert hatte, dem wurde die
Dienstpflicht auf ein Jahr beschrnkt, das sogenannte `Einjhrige'. Abiturienten,
eine relativ dnne Schicht, waren vom Militrdienst ganz befreit, wenn sie ihre
akademischen Studien fortsetzten; im Kriegsfalle wurden sie als Offiziere
eingezogen. In Friedenszeiten aber war der Dienst im kaiserlichen Heer fr
Offiziere und Unteroffiziere Beruf.
Ich weiss nicht ob die Erfahrung der Juden im
Handel erworbenes Wissen oder angeborene Fhigkeit war, wie die Nichtjuden immer
behaupteten - eine Theorie die im Israel
unserer Tage wenigstens noch bewiesen werden muss. Die diesbezgliche Forschung
ist sicher ein Teil der jdischen Geschichte. Die Berufskenntnisse in den
verschiedenen Zweigen des Handels, in unserem Falle im Textilfach im
Allgemeinen, oder in der Konfektion im Besonderen, eignete man sich im Laufe der
Jahre an und an mehr als einem Arbeitsplatz. Zu meiner Zeit sandten Familien
ihre Shne in (akademische) Textilschulen und Spinnereien. Die stndig wachsende
Bedrohung der mittleren und kleinen Betriebe durch die sich ausbreitenden
Warenhuser verlangte Vertiefung der Fachkenntnisse. Damals aber hing
schliesslich und endlich alles von der persnlichen Neigung und den zur Verfgung
stehenden Mitteln des Einzelen ab, seine Laufbahn als Angestellter fortzusetzen,
oder sich selbststndig zu machen. Eine Anstellung war auch damals keine
Verringerung des persnlichen Status: die Direktoren grosser
Wirtschaftskorporationen waren `Angestellte', wie auch die Manager der grossen
Produzenten. Wie dem auch sei - zu jener Zeit war die Neigung zur
Selbststndigkeit strker als heutzutage,
wo eine vernderte Wirtschaftsstruktur andere Preferenzen entwickelt.
Unser Vater beschloss sein eigens Unternehmen
zu gruenden. Sein lterer Bruder Oskar, der gleich ihm Lehr- und
Angestelltenjahre hinter sich hatte, erwarb bereits im Jahre 1910 ein Geschft in
Bad Freienwalde a/O, ein Stdtchen ca. 6 0
Km stlich von Berlin - nicht mehr als 12 Km von Wriezen entfernt, wo sich Pappa 1912 etablierte.
Der familire Hintergrund meiner Mutter war nicht sehr
verschieden vom dem meines Vaters, nur dass sie in anderer Umgebung aufwuchs, in
einer Grosstadt. Geboren 1883 in Rawitch, Provinz Posen (seit 1918 zu Polen
gehrig), dem Ehepaar Gerson und Cecilie Neustadt, war sie die dritte von vier
Tchtern, die kurz nach einander zur Welt kamen. Auch Mutters Vater begann als
Hausierer, aber einer anderen Art von Waren - Ikone und Heiligenbilder, die bei
der Landbevlkerung sehr gesucht waren. Dies brachte ihn im Laufe der Zeit zum
Handel mit Antiquitten, und, nicht weniger wichtig, zu weitlufigen
Kenntnissen in diesem Handelszweig. Ende der 80iger Jahre siedelte die Familie
nach Breslau ber, die damalige Provinzhauptstadt Schlesiens, einer Stadt von ber
einer halben Million Einwohnern - ein Industrie- und Kultur Zentrum, das sich
einer Universtt, Oper, Theater und Museen rh-men konnte und einer grossen,
blhenden jdischen Gemeinde. Wenn auch Mamma nicht mehr als acht
Volksschulklassen besuchte, die kulturellen Mglichkeiten der Grosstadt
erweiterten ihren Bildungskreis weit ber die Volksschulerziehung hinaus.
Nach Beendigung ihrer Schulzeit fand sie
Arbeit in einem grsseren Geschaeft und erwarb sich bald dort eine Stellung. Mit 16
war sie Kassierin, damals ein Vertrauensposten und scheint auch Buchfhrung und
sonstige administrative Ttigkeiten ausgebt zu haben - doch darueber weiss ich
kaum etwas. Sie war bereits 32 als sie meinen Vater ehelichte.
Den Antiquittenladen von Grossvater Neustadt
habe ich bis heute nicht vergessen. Viele Male haben wir uns dort herumgedreht,
das letzte Mal 1936 ,
drei Jahre vor dem Ende. Es war dies eine gerumige, hohe, 9 - 10 Zimmerwohnung.
In den frheren Jahren gab es dort noch Gasbeleuchtung. Die Hlfte der Wohnung
wurde bewohnt, die andere Hlfte diente als Ge- schft Die Rume waren bis an die Decke angeellt mit Antiquitten aller Art:
Mbel, Teppiche, Bilder, Vitrinen voll mit Schmucksachen, Bijouxs und Meissener
Porzellan, Silber, Judaica, von Leuchtern bis Thoraschmuck - Alladins Sesam.
Gebannt, mit grossen Augen und verhaltenem Atem standen wir Kinder vor diesem
Zauber. Einmal ging die Begeisterung meiner Schwester ber irgend etwas soweit,
dass sie sich pltzlich mit ihrem Kopf mitten in der Vitrine befand - durch die Glasscheibe hindurch!
Jugenderinnerungen bertreiben meist, aber wenn
ich heute die Ben Jehudstr. in Tel-Aviv entlang gehe und einen Blick in die
Antiquittenldchen werfe, so finde ich nur einen blassen Vergleich zu den
Schtzen, die in Breslau
aufgehuft waren. Natrlich, die Waren wurden nicht in Auslagen dargeboten wie
heutzutage in den besseren Geschften, aber das Publikum von damals (und sicher
zum nicht geringen Teil auch noch heute) bevorzugte das Durcheinander eines
schlecht beleuchteten Basars, in dem man herumstbern und Seltsamkeiten entdecken
konnte, wenn nicht gar Schtze, und die ernsteren und fachkundigen Kunden wussten
sowie, was sie suchten. Der ernsthafte und wichtige Handel mit Antquitten
spielte sich auch damals ausserhalb des Ladens ab, in den Slen der
Auktionshuser, in der Ersteigerung ganzer Nachlsse und deren sofortigem
Wiederverkauf; vieles ging von Hand zu Hand und gelangte gar nicht erst auf die
Regale. (Das Geschft bersiedelte 1939, nominell, nach New York
- ob -berhaupt Ware mitgenommen wurde und auf welche Weise, entzieht sich meiner
Kenntnis. Die Erben und Inhaber, Mammas Schwester Lea und ihr Mann, Mnne
(Emanuel) Pinkus, begannen in New York den Handel mit Antiquitten von Neuem, im
alten, im breslauer Stil. Ihr Sohn, mein Vetter Ernst (und spterer Gatte
Steffis) fhrte das Geschft nach dem Ableben seiner Eltern weiter - modernisiert
mit Auslagen und Virinen und einem neuen Kundenkreis...).
Die Ehe meiner Eltern wurde scheinbar vom Mammas
lebenslanger Freundin Rosa, geb. Brauer, gestiftet, die zwei Jahre vorher Pappas
lteren Bruder Oskar geheiratet hatte. Das Paar hatte sich in Bad Freienwalde
niedergelasen und 1910 ihr neugegrndetes Geschft erffnet. Tante Rosa war eine
usserst intelligente Frau mit scharfer Zunge und begabt mit einem
Familien-Talent, Verse aus dem Stegreif zu schmieden. Die Freundschaft zwischen
den beiden Fran whrte beinahe ein Leben lang; stundenlange Telefongesprche
zwischen Freienwalde und Wriezen waren etwas Alltgliches. Dass dieses Band
sprichwrtlich zum Schluss zerriss, habe ich bis heute nicht begriffen, ebenso
wenig, weshalb und warum. Die Heftigkeit der Auseinandersetzung habe ich nie
verstanden - Mamma hat viel Zeit ihrer Pflege gewidmet, wenn sie sie an die
Riveriera oder nach Italien begleitete, wenn Tante Rose Erleichterung ihrer
schweren Asthma Anflle suchte, oder nach England, wo Gerd in einem Internat
untergebracht wurde, und Tante Rosa Angst hatte, sich allein in ihrem Zustand in
das Klima zu begeben. Ich komme noch darauf zurrck.
Die Hochzeit meiner Eltern fand im Juni 1916 in einem Saal in Berlin
statt, der Sage nach in dem Hotel "Knig von Portugal", das in jdischem Besitz
und koschere Kche hatte. Dem Hotel und seinem Besitzer wre keine grosse
Wichtigkeit zuzumessen, es sei denn, dass ihm ein sozusagen historischer Makel
anhaftete: Gotthold Ephraim Lessing schildert in seinem Schauspiel "Minna von
Barnhelm" dieses berliner Hotel Anfang des 19ten Jahrhunderts und seinen
"schuftigen Wirt", der seinen Gsten das Fell ber die Ohren zieht. Seitdem waren
gute hundert Jahre vergangen, aber der Wirt scheint der selbe Schuft geblieben
zu sein - so, wenn ich mich
recht erinnere, die Klagen des jungen Ehepaars Radzewski bezglich der
Ausrichtung der Hochzeit. Soweit berichtet die Fama. Aber vor mir liegt
augenblicklich der Trauschein meiner Eltern, aus gestellt am 15. Juni 1915 in - Breslau .
Der Forschung liegt also noch ein weites Feld offen... Ebenso liegt zwischen
meinen Papieren der "Hochzeitskarmen", scheinbar von Tante Rosa verfasst (wenn
nicht, wie damals blich, bei einem Berufspoeten bestellt). darin war jedoch
nichts ber die unmittelbaren Plne des jungen Paares verzeichnet, wo es z.B. die
Flitterwochen zu verbringen gedchte.
Wochen mit oder ohne Flitter - am 15. Mrz 1916 erschien im der wriezener Tageszeitung, das "Oberbarnimer Tageblatt" folgende Anzeige:
DIE GLCKLICHE GEBURT EINES ZWILLINGSPAARES
zeigen hocherfreut an
RADZEWSKI UND FRAU FRIEDA geb. NEUSTADT
Wriezen, den 14.Mrz 1916.
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Unsere Geburt war also unbestrittene Tatsache - ber das Glck
konnte man geteilter Meinung sein. Das Gesamtgewicht des Zwillingsprchens
berstieg keine 2.5 Kg. Heutzutage htte man vielleicht einen Inkubator zu Hilfe gezogen. Aber auch wenn
Mamma im Krankenhaus entbunden htte - damals noch nicht allgemein blich - so
htte das nicht viel gentzt: in Wriezen und Umgegend gab so etwas nicht. Wrmflaschen und Kissen mussten das
Geschft bernehmen. Es gab auch keine Milch, nicht bei meiner Mutter und nicht im
Milchladen. Dafr hatte der Milchmann einen freundlichen Rat: "Geben Sie ihnen
doch Wasser zu saufen". Die Geburt eines Babys von ein-einviertel Kilo kommt
heute sogar manchmal in die Zeitung. Die deutsche Presse im zweiten Kriegsjahr
hatte mit wichtigeren Schlagzeilen aufzuwarten.
Erinnert man sich an die ersten zwei Lebensjahre? Wohl kaum.
Fotos helfen hier aus. Von Anfang an waren wir stndig krank - aber heute,
nachdem ich meine Kinder habe heranwachsen sehen und sechs Enkelkinder dazu,
komme ich zu dem Schluss, dass wir nach allem, im Grossen und Ganzen, uns nicht
anders verhielten, als viele andere Kinder auch: sich die ersten Lebensjahre mit
Erkltungskrankheiten herum zu schlagen. Aber auch hier entstand ein Mythos: mit
vierzehn Tagen steckte uns Pappa angeblich mit Schnupfen an, den wir deshalb
dann nicht mehr los wurden. Natrlich war hier keineswegs von Ansteckung die
Rede, vielmehr von Vererbung, oder richtiger, Disposition durch Vererbung. Und
damit werden auch die kommenden Generationen der Familie Radzewski geschlagen
sein - wenn nicht ein Atom-Chaos dem biologischen Leben auf Erden ein Ende
setzt.
1917 wurde mein Vater zu den Waffen gerufen, als Kanonier
bei den 105 mm Batterien, im Westen, in Belgien. Einige Monate spter wurde er
verwundet, durch zwei Granatsplitter im Rcken, und das langte zur Beendigung
seiner mili- trischen Laufbahn. Was ihm blieb war das Eiserne Kreuz zweiter
Klasse, das Verwundeten Abzeichen, Splitter in der Leber, die nicht entfernt
werden konnten, und, selbstverstndlich, der Dank des Vaterlandes.
Ich glaube, dass mein Erinnerungsvermgen vom
dritten Lebensjahre ab beginnt. Wir wuchsen in einem grossen, zweistckigem Hause
auf. Im Erdgeschoss befand sich der Laden, im oberen Stockwerk die Wohnung. Bis
zum Umbau 1927 gab es neben der unseren noch ein zweite Wohnung, die vermietet
war. Das Geschft umfassete an die 500 qm und vier, spter fnf grosse
Schaufenster. Die Wohnung hatte sieben oder acht Zimmer, Kche, Badezimmer und
Toilette, und einen riesigen Boden mit noch einem Zimmer, in dem man Gste
einquatieren konnte. Die verschiedenen dazugehrigen Gebude umschlossen einen Hof ,
von dem aus man in die verschiedenen Lagerrume und Schuppen und in die drei
Kellergewlbe gelangen konnte. Eines bestimmt fr den Heizkessel der
Zentralheizung fr Geschft und Wohnung, die beiden anderen noch richtige
Tonnengewlbe im mittelalterlichen Stil, wo Kartoffeln, Fsser mit Eingelegtem
und, last not least, auch Wein gelagert waren - grsstenteils nur dem Namen
nach...
Jedes unserer Zimmer hatte seinen Namen: das
Kleine Zimmer, das Herrenzimmer, das Esszimmer, die Diele, ein Fremdenzimmer,
das Kinderzimmer, das Schlafzimmer (der Eltern) und das Mdchenzimmer. Im Kleinen
Zimmer hielten wir uns am meisten auf; es war Wohn- und Esszimmer zugleich.
Eingerichtet in Biedermeier Mahagony, stand in der Mitte ein grosser, runder
Tisch, an der stlichen Wand das Sofa, und darber die Uhr und ihr zu Seiten die
ovalen Bilder der Grosseltern aus Breslau .
Gegenber die Kommode und darber ein Bild aus dem 19ten Jahrhundert, dass eine
Dame darstellte, die wir immer Anna Puff nannten, warum, ist mir entgangen.
Dicht an der Sdwand, am Fenster, der Sekretr, an dem bei Schulaufgaben so manche
Trne vergossen wurde, und daneben das Mahagonytischchen mit dem Telefon. Und in
der Sd-Ost Ecke der Eckschrank, hoch bis unter die Decke, viertrig. Wunderbare
und geheimnisvolle Dingen waren darin verborgen, ich weiss nicht mehr was; nur
ein Duft von allen mglichen Gewrzen strmte davon aus, kein Wunder, denn der
Eckschrank diente als Aufbewahrungsplatz der Liegnitzer Bomben, die whrend der
Wintersaison bei uns stndig in Vorrat waren. ber dem Tisch hing ein
Kronleuchter, ebenfalls 19tes Jahrhundert, aber bereits mit installierten
Glh-birnen an Stelle der Kerzen. An sechs Kerzenhaltern ringsum hingen an jedem
sechs Kristall-Prismen, 36 im Ganzen. Zweimal im Jahr, ich glaube wohl zur Zeit der Equinox, schien die
Sonne um die Mittagszeit in einem Winkel durchs Fenster, dass die Sonnenstrahlen
die Prismen trafen, die nun ihrerseits alle vier Wnde des Zimmers mit Hunderten
von Sonnenflecken entflammten, in den Farben des Regenbogens.
Die Diele, eine Verlngerung des Korridors, von der aus die
Tren in die verschiedenen Zimmer fhrten, war ebenfalls in Biedermeier
eingerichtet, in Birke; mit rundem Tisch, Sofa und Schrnken und obligatem
Kronleuchter. ber?flssig besonders zu erwhnen, dass meine Mutter die antiken
Mbel in die Ehe brachte. Sie htte gern auch die restlichen Zimmer so mbliert.
Mein Vater wollte ihr eine berraschung bereiten und kaufte zwei Zimmer in
schwerer Eiche, modern, das Ess- und das Herrenzimmer. Meine Mutter hat sich bis
zum Ende ihrer Tage darber gekrnkt - und mit Recht! Aber auch diese Version ist
ein Tel des Sagenkreis'.
Im Herrenzimmer hielten wir uns schon seltner auf.
Eingerichtet mit Riesen Couch, Klubsesseln und Diplomatenschreibtisch, diente es
eigentlich mehr zum Empfang von Gsten. Ein grosser grner Kachelofen mit
heizbarer Ofenbank sorgte fr Wrme. ber der Couch hing ein lgemlde eineinhalb mal
2 m im Ausmas. Es stellte ein norwegisches Fjord dar und war das, was man als
einen akademischen Schinken bezeichnen knnte. Eine Standuhr mit halbstndigem
Gong verlieh der Umgebung Wrde. Das Esszimmer, oder auch das drei- fensterige
Zimmer, mit ausziehbarem Eichentisch fr 24 Personen, Bffet und Anrichte,
Servanten und Tiffany-Lampe, wurde nur selten geheizt. Es war daher whrend des
grssten Teils des Jahres ein natrliches Khlhaus, und wurde auch gelegentlich als
solches benutzt.
Solange wir klein waren bewohnten wir das Kinderzimmer, bunt
tapeziert, mit einem
Mrchenfries ringsum. Dort lebten wir mit unserem Frulein, schliefen, assen und
spielten. Nach dem Umbau von 1927 wurde auch in der Wohnung vieles renoviert,
und jeder von uns bekam sein eigenes Zimmer.
Die Kche enthielt zwei Kchenschrnke fr milchiges und
fleischiges Geschirr und einen grossen Tisch, alles aus 'pitch pine',
zentnerschwer, und einen zweiteiligen grossen Herd: auf der einen Seite vier
Flammen Gas und darunter ein mit Brikett heizbarer Bratofen. Auf der anderen
Seite ein "Grudeherd", der nie ausging und sozusagen eine Kochkiste darstellte.
Wozu - weiss ich nicht. Es gab nur einen "Ausguss" mit einem Kaltwasserhahn,
abgewaschen wurde in Emaillewannen, in kochendem Wasser, mit Soda und Strohwisch
- einige Lichtjahre vor den Detergents. Dass das Soda die Hnde zerfrass
interessierte vielleicht nur die unmittelbar Betroffenen - und die wurden nicht
gefragt. Auch im Badezimmer gab es
kein warmes Wasser, wohl aber in den spteren Jahren ein grosses Waschbecken und
Spiegel. Bis dahin wusch man sich morgends kalt im Schlafzimmer, am Waschtisch,
im traditionellen Waschgeschirr (passender Set, Blumenmuster: Waschbecken,
Wasserkanne, und dazu passender
Nachtopf, absolut nicht nur zur Zierde). Dem wchentlichen Bad diente eine
Badewanne mit (Brikett) heizbarem Badeofen. Der wchentliche Termin dafr war fr
uns Kinder und Frulein Sonnabend abend, fr die Eltern Sonntag frh. Der Badeofen
lieferte nach einer Stunde Heizen nicht mehr als ein Bad, dafr erhitzte sich das
Badezimmer um so mehr - zur Sauna! Bis heute verstehe ich nicht, warum es nicht
mglich gewesen wre, nach dem Umbau 1927 Warmwasserleitung in Kche und Badezimmer
zu installieren; die technischen Voraussetzungen dafr existierten bestimmt schon
zu dieser Zeit.
Ich trume nicht etwa von einer frstlichen Vergangenheit -
wir waren weder reich, noch lebten wir wie reiche Leute. Aber man darf nicht
vergessen, dass damals auch die mehr be- gterten Schichten einen viel einfacheren Lebensstandart lebten als
heutzutage. Wir besassen kein Auto - wenige hielten sich eins, es sei denn im
Geschft oder im Beruf, wie z.B. rzte. Fr die Meisten war das Verkehrsmittel die Eisenbahn, die mit gengender
Frequenz verkehrte und beinahe berall hin gelangte. Auch in Berlin benutzte man
nur selten ein Taxi und begngte sich mit U- oder S Bahn. Die Kleidung war betont
einfach, Schmuck wurde vermieden. Ich kann mich kaum entsinnen, dass unsere
Eltern ausgingen. Vielleicht einmal zu einer besonderen Auffhrung in Berlin,
oder zu einer Veranstaltung, Familienfete oder Gemeindetreffen - oder zum Arzt.
Man fand auch, ob zu Recht oder zu Unrecht, kaum Mglichkeit, vom Geschft
fernzubleiben... Fr uns Kinder lag die Sache allerdings anders: es gab kaum
einen Sommer, den wir nicht an der See oder im Gebirge verbrachten. Aber das
gehrt schon zum Thema "Gesundheit", das wir hier noch ausfhrlich behandeln werden.
Wriezen, das Stdtchen, in dem wir aufwuchsen, hatte an die
7000 Einwohner, zum grssten Teile Arbeiter und kleine Beamte, Werksttten und
einige kleinere Fabriken, und ein sehr weitlufiges Hinterland - das Oderbruch.
Im Mittelpunkt des Oderbruchs stand die Zuckerfabrik Thringswerder, eine
Schmahlspurbahn, die "Oderbruchbahn", verband die Dutzenden von Drfern mit
Wriezen. Das Oderbruch hnelte etwas in der Art seiner Entwickelung den
hollndischen Poldern. Zuckerrben stellten einen erheblichen Teil der
landwirtschaftlichen Produktion dar, zur Zeit der Weltwirtschaftskrise und
Zuckerberschssen nicht gerade ein einbringender Artikel. Wriezen war das
geschftliche Zentrum fr das Oderbruch, mit seinen zahlreichen Geschften und
Wersttten. Hier trafen sich die Kufer aller Schichten, die Landleute der
Umgegend, die Arbeiter, die Beamten, besonders vor den Feiertagen, zu ihren
saisonbedingten Einkufen. Im Grossen und Ganzen war die Bevlkerung
wirtschaftlich nie besonders gut situiert, aber nach Ausbruch der
Wirtschaftskrise von 1929 verschlechterte sich ihre Lage wesentlich.
Auf dem Marktplatz, unter der grossen Eiche, stand das
Kriegerdenkmal vom Krieg 1870/71, Kaiser Wilhelm I hoch auf eisernem Ross, in
die Lande druend, wie Tucholski so schn sagt. Hier versammelte sich an
nationalen Feiertagen der Kriegerverein in Gehrock und Zylinder zur inneren
Erhebung und Mahnung der Nachfahren. Diese scheinen sich die Mahnung tatschlich
zu Herzen genommen zu haben, denn in den darauf folgenden Jahren wurde der
Marktplatz mehr und mehr Ort fr Massenkundgebungen, weniger innerer Erhebeung,
als dem Auslauf kochender Volkseele dienend.
Der Markt war von beiden Seiten von Huserreihen umsumt; die
Ostseite schloss der Bahnhof ab, das Bahnhofsgebude mit anschliessendem
Bahnhofsgarten, Restaurant und Biergarten, in dem wir manchmal einen Sommerabend
verbringen konnten. Auf der Westseite stand das Rathaus. Daselbst residierten
der Brgermeister, die Polizeiwache (der Brgermeister hchstselbst fungierte als
Polizeibehrde). Der Brgermeister, Jurist von Beruf, war jahrelang angestellter
Beamter der Stadtverwaltung und nicht etwa ein wohlsituierter Brger der Stadt
und scheint auch nicht politisch ttig gewesen zu sein. Auf dem Dach des
Rathauses war die Alarmsirene montiert, die mangels Luftalarm zu jener Zeit sich
mit Feueralarm begngte. Ein brennender Mllhaufen oder eine halb verfallene
Scheune lssten Feuerwarnung aus - letzteres nicht selten, wenn der Besitzer
glaubte, sich mit der Versicherung einigen zu knnen. Um auch vllig sicher zu
sein, dass die Sirene zu jeder Tages- und Nachtzeit funktionierte, drckte man
vorsichtshalber jeden Mittag um Punkt 12:00 Uhr einige Sekunden auf den Knopf.
200 m westlich vom Rathaus, an der Kreuzung der
Hauptstrasse, der Wilhelmstrasse, erhob sich die (protestantische) Kirche, St.
Marien, wohl an die 700 Jahre alt. Ihr Glockenturm ragte an die 75 m in die Hhe,
die untere Hlfte aus Stein, die obere aus Holz gebaut. Die Turmuhr schlug alle
Viertelstunde. Der Kirche gegenber, 40 -50 m entfernt, stand unser Haus, ein
Eckhaus, das die sdwestliche Ecke der Strassenkreuzung einnahm. Das Glockengelut am
Sonntag Morgen strte uns nicht besonders; ein unerwarteter Telefonanruf, dass
der Kirchturm in Brand geraten sei, war schon eher haarstrubend. Ein Kurzschluss
im Glockenwerk soll den Brand verursacht haben, und die Aussicht, dass der
brennende Turm ber unserem Haus zusammenstrzen knnte war gar nicht so
unwahrscheinlich. Zum Schluss soll der Kster mit Hilfe eines Minimax den Brand
gelscht haben - so schlimm kann's also nicht gewesen sein.
War der Markt wohl einen halben Kilometer lang, so
erstreckte sich die Hauptstrasse, die Wilhelmstrasse ber dieselbe Entfernung.
Dort befand sich der Grossteil der Geschfte, und am spten Nachmittag wimmelte es
dort von Menschen. Fr die Jugend in ihren verschiedenen Alterstufen war die
Wilhelmstrasse die Prommenade. Dort traf man sich, auch zu Zweien (wer es
wagte), zu schchternen Annherungsversuchen eines stilisierten mating dance. Der
Lehr- krper des stdtischen
Gymnasiums verhngte allerdings eines Tages eine abendliche Ausgehsperre fr seine
Schler, um dadurch eine weitgehendere Erledigung der Schularbeiten zu erreichen.
Die Lehrer scheuten auch nicht vor einem Strassendienst, um die Durchfhrung der
Sperre zu gewehrleisten.
Unsere Eltern behaupteten stets, dass Wriezen nach Ende des
ersten Weltkrieges eine durchaus demokratische Stadt gewesen sei
(ich persnlich glaube nicht recht daran). Das nderte sich aber bald. In den Industriegebieten
und in den Grosstdten trugen die Gewerkschaften und Arbeitermassen die Fahne des
Sozialismus. Die Arbeiterparteien bildeten die Mehrheit im politischen Spektrum.
Die grosen Stdte waren auch die Zentren intellektller Aktivitt, der Geistes- und
Naturwissenschaften, Kunst und Literatur. In der Provinz dagegen neigten der
niedere Mittelstand und die Landbevlkerung, und auch die Landarbeiter eher nach
Rechts. Waren Landarbeiter organisierte Kommunisten, so war dies mehr ein
Ausdruck des Status als eine
politische berzeugung (die Nazis als Populisten wussten das zu ntzen: sie
nannten sich naionale Sozialisten...). Die kleinen Beamten und Ladeninhaber
fhlten sich in der Weimarer Republik
nicht daheim; sie wollten nicht die Gleichheit der Brger, sie wollten Authoritt
und Hierarchie und ein konservatives Beamtentum. Gesellschaftlicher Fortschritt,
Kultur und Wissenschaft sagten ihnen nicht viel. Sie sehnten sich nach dem
blanken Knopf und dem glnzenden
Stiefel des kaiserlichen Kommiss. Die Republik, das war etwas fr Juden und
Intellektlle, die konnten jetzt tun und sagen, was in ordentlichen Zeiten
kein Mensch gewagt htte zu tun und zu sagen. Die Republik existierte praktisch
nur in den grossen Stdten; in der Provinz lebte man in der Vergangenheit.
Mochte der kleine Ladeninhaber von besonnter Vergangenheit
trumen, mochte der Subalternbeamte seinem Vorgesetzten salutieren - der
preussische Lehrer in der Provinz sah sich ausersehen als
Siegelbewahrer geschichtlicher
berlieferung, als Hter des Herdfeuers von Gott, Knig und Vaterland. Seine Arena
war natrlich die Schule. Fr ihn war der (erste) Weltkrieg
d a s s nationale Erlebenis, und nur
Verrter am nationalen Gedanken verhinderten den Sieg, der erzgewiss.
Es gab Lehrer, die ganz offen ihrer Verachtung der
Weimarer Verfassung, die vor allen die Rechte des Einzelen und die Gleichheit
vor dem Gesetz vertrat,
Ausdruck verliehen. Diese Herren bersahen scheinbar, dass das deutsche geistige
Denken des 18ten und Anfang des 19ten Jahrhunderts, auf dem sie das nationale
Erbe des Reichs begrndet sahen, den Begriff der Nation berhaupt nicht kannte.
Die deutschen Denker waren grsstenteils Kosmopoliten. Sogar die Volkserhebeung
von 1848 kmpfte vor allem fr individlle Rechte und gegen den Feudalismus.
Auch die Juden strten. Der Antisemitismus war zwar keine
ausgesprochene deutsche, sondern eine allgemein europische Erscheinung. Seit
Generationen vernderte er sich und passte sich den jeweils herrschenden
gesellschaftlichen und politischen Bedingungen an. Die Juden ihrerseits drngten
sich nicht gerade, das Entreebillet zur europischen Zivilisation zu erwerben,
das heisst sich taufen zu lassen, aber auch wenn sie es getan htten - die
europ?ische Gesellschaft, und mit ihr die Deutschen, waren nicht so ohne
Weiteres bereit die (getauften) Juden als gleichberechtigte Brger in ihre Reihen
aufzunehmen. Die Juden wiederum fanden sich mit dem Antisemitismus mehr oder
weniger als bestehende Tatsache ab. Theodor Herzl wollte sich nicht damit
abfinden - und musste den Spott seiner
Umgebung erleiden. Vorrangstellung in Wissenschaft und Kunst brachte den Juden
wohl die Achtung ihrer Mitbrger ein, aber nicht ihre Liebe.
Die Gesellschaft nahm stets, bewusst oder unbewusst, eine feindliche Haltung den
Juden gegenber ein; wirtschaftlicher Erfolg schrnkten den anti- jdischen Antagonisms mit der Zeit etwas ein: es bildete sich so etwas
wie ein Verhltnis von "trau, schau wem". In der Provinz und in weniger
gebildeten Kreisen war die Ablehnung der Juden offener und unverhllter: von
"einige meiner besten Freunde sind Juden" bis "die Juden bereichern sich auf
Rechnung ihrer Mitbrger". Trotz Emanzipation galten die Juden in den Augen der
Europer als Brger zweiter Klasse.
Rckgrat des deutschen Nationalismus blieb also die Provinz -
und die Provinzpresse. Die Tatsache, dass jedes Stdtchen und jedes Dorf seine
eigene Tageszeitung herausgab, unter- sttzte diese Entwickelung. Der Fhrer der Deutsch-Nationalen, Herausgeber
und Besitzer des Verlags Scherl, nutzte das aus, um sich der Provinzpresse zu
bemchtigen. Eine geniale Erfindung ermglichte ihm das, nhmlich sein
"Materndienst", die Pappmatrizen, die tglich an die Redaktionen der
Provinzbltter geliefert wurden und die bereits die ganze Zeitung enthielten, vom
Leitartikel bis zu Kochrezepten und Wettervorhersage, und nur einige Spalten fr Lokalnachrichten freiliessen - und natrlich den Kopf des betreffenden
Blattes. Lokale Nachrichten und Annoncen eingesetzt, brauchte man nur die
Pappmatrizen auszugiessen, und schon hatte man eine - natrlich nationale -
Tageszeitung so ganz nach dem Herzen der Leserschaft. Keiner zerbrach sich den
Kopf darber, dass alle diese Blttchen nicht mehr als ein einziges Faksimile
darstellten. Historiker bertreiben nicht, wenn sie andeuten, dass es der
Materndienst von Scherl war, der Hitler den Weg zur Macht bahnte.
An eine demokratische Umgebung in Wriezen kann ich mich also
nicht erinnern. Fr mich war alles, was ausserhalb der eigenen vier Wnde lag,
feindliches Territorium. Ich nehme an, dass zu dem bodenstndigen, beinahe
"natrlichen" Antismitismus ein gesundes Mass von Klassenhass dazukam. Meine
Eltern merkten davon nichts, richtiger, sie machten sich nicht wissen. Dennoch
distanzierten sie sich absolut von ihrer nichtjdischen Umgebung - bis
zur berheblichkeit. Fr sie war das nichtjdische Milieu G.N., Abkrzung aus den
Jiddischen "Gojim Naches" (ðçú ùì âåéí), alles was den Gojim Spass macht. Mit
anderen Worten etwa: "Seht nur, womit die sich amsieren!". Kulturelle
Klassenarroganz als Reaktion auf Gesellschaftsantisemitismus. Die Philharmoniker
gegenber dem Bierlokal! Natrlich war das keine Sache der Bildung. Die Nichtjuden
waren, was Bildung anlangt, den Juden keinesfalls unterlegen; es war nichts mehr
als die bekannte Kompensation des Minderwertigkeitskomplexes: der
berwertigkeitkomplex.
Als ich heranwuchs sprach ich einmal mit unsern Eltern
darber; sie antworteten ungefhr so: "Was wisst ihr Kinder schon vom Leben! Wir,
Euere Eltern, sind zwischen Feindseeligkeit und Hass aufgewachsen und haben
gelernt, damit fertig zu werden. Wir haben uns ein dickes Fell zugelegt. Sich
mit gesellschaftlichen Antisemitismus abzufinden ist kein zu hoher Preis dafr,
hier leben zu knnen. Wo ist das verheissene Land, wenn nicht hier? Wohin wir
auch gehen wrden, ginge es uns wesentlich schlechter. Stolz ist ein Luxus, der
nicht einen Pfennig einbringt..." Sie erzhlten, wie es einer von Pappas Nichten
erging, die sich verheiratete und in den 20iger Jahren nach den U.S.A. auswanderte: das
junge Paar musste seinen Namen ndern und durfte
sich keinesfalls als Juden ausgeben, sonst htte man ihnen (ausserhalb New York)
keine Wohnung vermietet. "Das ist das, was uns drben blht? Soweit sind wir hier
doch noch nicht!". Und Palstina mag wohl das Land sein, wo Milch und Honig
fliesst - aber wer kann schon von Milch und Honig existieren?
Die jdische Gemeinde in Wriezen zhlte an die 25 Familien,
die alle mehr oder weniger gut situiert waren, Geschftsinhaber oder Hndler. Ein
Vertreter der freien Berufe war zufllig nicht unter ihnen. Der Beginn der
Gemeinde geht bis ins 18te Jahrhundert zurrck, als Friedrich der Grosse die
erste jdische Familie nach Wriezen einlud, wo sie daselbst eine Seidenindustrie
grnden sollte. Zu diesem Zwecke bepflanzte man beide Seiten der Friedrichstrasse
mit Maulbeerbumen, in deren Laub man die Seidenraupen zchten wollte. Wie
Anderorts, so war auch in Wriezen dieser Versuch, scheinbar aus klimatischen
Grnden, zum Scheitern verurteilt. Der Verlust jedoch belastete den Staatssckel
kaum: die Juden mussten ihn aus eigener Tasche bezahlen. Soweit zu den
Entwickelungsprojekten jener Zeit.
Unter den mehr bekannten Mitgliedern der wriezener Gemeinde
wre die Familie Bleichrder zu nennen, deren Nachfahren, Grnder der "Preussischen
Staatsbank & Seehandlung", Bismarck den Krieg von 1870/71 finanzierten (vor
Grndung der Reichsbank). Ihre Grabsteine gehrten zu den prominentesten des mehr
als 200 Jahre alten jdischen Friedhofs am Rande der Stadt. Von einer Mauer aus
Feldsteinen umgeben, mit einen grossen eichernen Tor, immer etwas schief in
seinen Angeln, die alten Grabsteine zum Teil verwittert und versunken, Bume, so
alt wie der Friedhof selbst, und blhende Strucher im Sommer - und tiefe Stille
und Ruhe, auch im Rauschen der Bume und Zwitschern der Vgel. So ist mir der
Friedhof in Erinnerung geblieben, immer ein wenig geheimnisvoll und weitab vom
Getriebe der Welt.
Die Synagoge, so wie ich sie kannte, wurde in den 80iger
Jahren des vorigen Jahrhunderts erbaut. Der Bau war nichts Aussergewhnliches;
Architektur und Innereinrichting spiegelten Stil und Geschmack der damaligen
Zeit wieder. Die Holzbnke und Pulte waren grau angestrichen, eine dreiseitige
Galerie, eine Treppe hoch, war den Frauen eingerumt. Die religise Frbung
der Gemeinde wre wohl heute als 'konservativ' zu bezeichnen - auf keinen Fall
jedoch als orthodox. Einen Rabiner hatte die Gemeinde nicht, aber einen
'Chasan', einen Kantor, angestellt mit einem bescheidenen Gehalt. Andachten
fanden ausser an den Feiertagen, nur am Freitag Abend und Sonnabend statt -
unter der Bedingung, es fand sich der ntige 'Minjan' dazu ein. Zur Synagoge
gehrte auch ein zwei- stckiges
Wohnhaus. Die Wohnung im Erdgeschoss bewohnte der 'Schamasch' der
Gemeindediener, ein Nichtjude, der sich sein karges Gehalt durch Schuhflicken
ergnzte; die Wohnung im oberen Stockwerk war dem jehweilig amtierenden Chasan
vorbehalten.
Einen jdischen Fleischer, der einen streng koscheren
Fleischerladen fhrte, gab es in Wriezen nicht. Es bestand ein Abkommen mit einer
Fleischerei, die nach Bedarf der Gemeinde ein Rind zur koscheren Schlachtung
(durch den als Schochet fungierenden Chasan) zur Verfgung stellte. Ein
besonderes Risiko ging der Schlchter dabei nicht ein: die Juden waren
schliesslich nicht seine einzigen Kunden. Das koscher geschlachtete Fleisch
wurde nicht getrennt gehalten, sondern, wie alles andere auch, ber den
Ladentisch verkauft. Die Hauptsache es war koscher... Nur ein Teil der
Mitglieder der Gemeinde achteten auf Kaschrut, oder hielten berhaupt etwas,
sodass niemand an der bestehenden Ordung Anstoss nahm.
Der Chasan amtierte auch als Religionslehrer. Religion war
vom Lehrplan der deutschen Schule nicht wegzudenken; mindestens zweimal in der
Woche war eine Stunde festgesetzt. Die jdischen Kinder nahmen natrlich am
Religionsunterricht nicht teil; an Stelle dessen sorgte die Gemeinde dafr, an
Nachmittagen, fr alle Alterstufen, sowie auch fr Vorbereitung zur Bar-Mizva.
Der Religionsunterricht befasste sich weniger mit Religion,
als mit ihren usseren Attributen. Man lernte etwas biblische und jdische Geschichte,
das eigentliche Ziel des Unterrichts aber war, die Gebete lesen zu lernen.
Wohlgemerkt lesen, beileibe nicht verstehen. So lernten wir also mit sechs
Jahren Herbrich lesen, ohne ein Wort davon zu verstehn, was wir lasen. Die
deutsche bersetzung des Textes, auf der benachbarten Seite im Ssidur oder
Machsor, sagte uns nicht viel. Um die Schnheit der mehr als tausend Jahre alten
Psie zu begreifen, gehrt ein wenig mehr als das Aleph-Beth. Spter lernte ich
auch Schreiben. Lesen und Schreiben, die Grundlagen jeder Sprache, wurden mir
somit beigebracht, sehr ntzlich und zeitsparend, als ich mit 18 Jahren hebrisch
als Sprache zu erlernen begann.
Die Observanz religiser Vorschriften, insbesondere die
Heiligung des Shabbat, war der Auslegung eines Jeden berlassen, entsprechend
seinen Neigungen und (wirtschaftlichen) Interessen. Die Hohen Feiertage, Rosch
Haschana und Jom Kipur, wurden von Allen mehr oder weniger gehalten, inklusive
Schliessung des Geschfts und (teilweises) Fasten. An den restlichen Feiertagen
und Sonnabenden blieben die Lden offen, wenn auch ein Teil den Gottesdienst in
der Synagoge besuchte. Zu Purim kam man, um die Megila zu
hren, an Ssimchat Tora warfen die Frauen von der Gallerie whrend des grossen
Umzuges Bonbons auf die Kinder, und wir wurden zur Tora aufgerufen, um angstvoll
stotternd die Bracha aufzusagen. Sseder Pessach hielt jeder ab, an zwei Abenden,
mit îä ðùúðä - vllig unbegreiflich, warum etwas anders sein sollte, und warum
man Meerrettich schlucken muss, wenn man sich gern mit Charosset begngt htte.
Aufbleiben durfte man allerdings lnger - Lel Schmurim oder nicht - so hatten
Herren in Bne Berak den Brauch eingefhrt, in Wriezen aber mit weniger als zum
÷øéàú ùîò ùì ùçøéú; morgen war auch noch ein Tag. Und das, nachdem man "nach
Belieben gespeisst" hatte, so war es in der Hagada verzeichnet. Religion mit
Schmausen zu verbinden, das haben wir von den alten Griechen gelernt. Die mgen
sich auf die linke Seite gelehnt zu haben, um den
grssten Teil des Bechers zu trinken - Borscht und Matzeklssel aber stammen
sicher von stlich der Oder-Neisse Linie.
Die gesellschaftliche Aktivitt der wriezener jdischen
Gemeinde war begrenzt. Einmal im Jahr, zu Purim oder zu Chanuka, veranstaltete
die Gemeinde ihren "Ball", meistens bei Blascheck, eines der grsseren Cafes am
Platz. Dar?ber hinaus pflegten unsere Eltern kaum gesellschaftlichen Verkehr, es
sei denn mit einem lteren Ehepaar, dass man gelegentlich besuchte. In fruheren
Jahren allerdings entsinne ich mich, das manchmal bei uns ein Diner stattfand,
zu dem ausgewhlte Ehepaare eingeladen wurden und bei dem sogar nach
Schallplatten getanzt wurde. Natrlich hatten wir Kinder zu Veranstaltungen
dieser Art keinen Zutritt. Einen eigenen Bekanntenkreis hatten wir, bis wir ins
Gymnasium kamen, nicht.
Kehren wir zurrck in unser Haus. Unser Haus war ein Eckhaus.
Unsere unmittelbaren Nachbarn waren einerseits die Knabenvolksschule (die
Grundschulen waren fr Jungens und Mdchen getrennt), auf der anderen Seite, der
Ratsstrasse, das Schuhgeschft des Ehepaars Bierbach, die, wie wir, im zweiten
Stock ber ihrem Laden wohnten. Unsere Beziehungen waren whrend der ganzen Jahre,
bis zum Schluss, korrekt. Einem stillschweigenden ?bereinkommen gemss fhrten wir
in unserem Geschft keine Schuhe und sie bei sich keine Strmpfe. Ich kann mich
nicht entsinnen, dass wir sie jemals aussergeschftlich besuchten, oder sie uns -
aber das war unser Verhltnis auch zu allen anderen nichtjdischen Mitbrgern. Die
unsichtbare Grenze wurde nichtberschritten:
die Mauern des Ghetto waren zwar aus Glass, aber dennoch Mauern.
Wir waren immer unter der Obhut von Kinderfruleins. Im
vierten Lebensjahre kam eine zu uns mit Namen Hedwig Laut, an die dreissig,
vielleicht weniger. Einige Jahre zuvor hatte sie in England eine Stelle gehabt.
Wir htten bei ihr gut Englisch lernen knnen; mit vier Jahren ist das kein
grosses Problem. Einige Worte brachte sie uns bei, wie z.B. "ticket", oder zu
antworten auf die Frage, ob wir manchal ungezogen sind: "some times". Unsere
Eltern scheinen aber keinen besonderen Wert auf derartige Errungenschaften
gelegt zu haben. Hedwig war vollschlank und erklrte uns ausfhrlich die
anatomischen Einzelheiten ihrer usseren Erscheinung. Sie
verdrosch uns auch, doch das war absolut im Rahmen der damaligen pdagogischen
Auffassung.
Es war das Jahr 1921. Deutschland versuchte sich nach den
Jahren des Krieges wieder aufzurichten. Die Unterernhrung, hervorragend in allen
am Krieg beteiligten europischen Lndern, hatte die Menschen schutzlos gegen auftretende Epedemien gemacht.
Die Spanische Grippe (heute asian flu) raffte Hunderttausende dahin, und nicht
weniger die Tuberkulose, gegen die es noch keine Medikamente gab. Man wusste
noch nichts von antibiotics; die fortgeschrittenste Technik war der
Pneumothorax, das Stillegen einer Lunge zum Ausheilen der Kaverne, dazu gute,
kalorienreiche Ernhrung und viel Ruhe, ausgesetzt ultravioletter Strahlung - im
Gebirge oder von der Quarzlampe. Wer es sich leisten konnte.
Nach einer Grippe im Winter 1920/1 wollte sich Mamma nicht
recht erholen und nach lngerem hin und her konstatierte der Arzt einen
Lungenspitzenkatarrh. Die Warnlampe leuchtete auf, sofortiges Eingreifen war
geboten. Empfohlen ward der Zauberberg, in diesem Falle das Lungensanatorium des
Herrn Professor Backmeister in St. Blasien, im Schwarzwald. Man sprach von einer
Kur von mindestens drei Monaten.
Mamma zerbrach sich den Kopf, was sie mit uns Kindern
anfangen sollte. Sie hatte kein rechtes Vertrauen in Frulein Hedwig, englischer
Sprachkenntnisse ungeachtet. Es wurde daher beschlossen, uns alle mit in den
Schwarzwald zu nehmen. Ab ging die Reise, nach
Sden. bernachten musste man in Frankfurt a/M, nach einer Tagesreise von Berlin,
im Hotel, und fr uns furchtbar aufregend. Am nchstenn Tage gings weiter, in
Richtung Freiburg. Im Zuge waren wir sehr unruhig, es juckte uns am ganzen
Krper. Nhere Untersuchung ergab, dass wir von Kopf bis Fuss von Wanzen zerbissen
waren. Es scheint damals die Menge der Wanzen im direkten Verhltnis zur Anzahl
der Sterne des Hotels gestanden zu haben. Der Kommentar meiner Mutter: "Die Zeil
war schon immer verwanzt" klingt mir noch heute in den Ohren, wenn ich die Zeil
hinunter laufe.
Die Reise schien uns damals endlos. Von Freiburg mit
einer Kleinbahn, der 'Hllentalbahn', bis nach Titisee, ber schwindelerregende Brcken und
dunkele Tunels, und die letzte Strecke noch per Autobus ber schmale Strassen und
Haarnadelkurven. Und dann St. Blasien, mit Kloster und Klosterkirche, und ber
allem, jeder Zoll ein Zauberberg, das Sanatorium.
Wir wurden mit Frl. Hedwig zunchst in eine Pension
einquartiert. Mamma begab sich schnurstraks zum Herrn Professor in die
Sprechstunde. Am nchsten Tage wurden wir daselbst zum Rntgen bestellt. Der
grosse Professor empfing uns in seinem Rntgenlabor, gekleidet eher wie ein
Dorfschmied, mit riesiger Lederschrze, Handschuhe bis an die Ellbogen und
Schweisserbrille. Die Untersuchung sollte nur versichern, dass wir uns noch
nicht angesteckt hatten. Darber hinaus soll der grosse Professor meine Mutter
gefragt haben, ob sie noch alle ihre Sinne beisammen htte, uns Kinder direkt in
den Herd der Ansteckung mit zu schleppen. Sie versprach, uns unverzglich
wegzuschicken, Hedwigs Vertrauenswrdigkeit ungeachtet.
An das, was dann kam, erinnere ich mich nicht mehr genau:
noch eine endlose Reise, diesmal im Schlafwagen-Express nach Berlin. Dort
erwartete uns Pappa und verfrachtete uns in einen anderen Express, nhmlich nach
Kolberg, an der Ostsee. In Kolberg waren wir schon frher; ich fand uns in einem
Bild von dort, vom Sommer 1918. In Kolberg mieteten wir uns ein Zimmer, wo und
was wir assen, weiss ich nicht mehr. Hedwig scheint sich unsertwegen nicht viel
graue Haare gemacht zu haben, sondern sorgte vor allem fr ihr persnliches
Amusement. Scheinbar muss unsere Zimmervermieterin etwas darber nach Hause
berichtet haben; jedenfalls erschien eines Tages Tante Betty, eine jngere
Schwester meines Vaters, damals noch unverheiratet, und bernahm kurzerhand das
Kommando.
See und Strand waren damals nicht viel anders als heute
auch. Wir spielten im Sand mit Eimerchen und Lffel. Gebadet werden wir wohl
nicht zuviel haben, das Wasser war meistens zu kalt. Aber Schlagsahne konnten
wir bereits ins Cafe essen gehen - die Milch war von diesem Sommer ab wieder zur
Bearbeitung frei gegeben worden.
Kurz nachdem wir wieder zu Hause angelangt
waren, kehrte auch Mamma frisch und gesund von ihrer Kur aus dem Schwarzwald
zurrck. Als erstes wurde Hedwig an die Luft gesetzt, and dann wechselten sich fr
eine Weile die Kinderfruleins bei uns ab. Im Winter 1921/22 empfahl dann eine
von Mammas Schwestern aus Breslau zwei junge Mdchen aus der breslauer Umgegend,
die einen gemeinsamen Arbeitsplatz suchten - die eine als Haushlterin, als
'Sttze', wie man so zu sagen pflegte und die andere als Kinderpflegerin. Die
Anstellung wurde ohne jede weitere persnliche Fhlungnahme schriftlich perfekt,
und man erwartete die Beiden Ende Januar oder Anfang Februar. Am Tage ihrer
Ankunft klingelte am Nachmittag das Telefon: sie waren in Frankfurt/Oder, zwei
Drittel des Weges von Breslau, stecken gegeblieben; Schneewehen hatten den
Eisenbahnverkehr unterbrochen. Ich sehe noch, wie mein Vater das rtliche Taxi
anrief (ich betone "das" Taxi, vielmehr existierten nicht). Kurz darauf stand es
bei uns vor der Tr. Pelze, Decken und Bettwrmer wurden eingeladen. Der Wagen,
ein Modell der 20iger Jahre war offen, mit aufklappbarem Dach. Mit besten
Wnschen fr heile Wiederkehr machte er sich auf den Weg durch Schnee und Eis. Wir
wurden natrlich schlafen gelegt, aber bis heute habe ich nicht vergessen, wie
wir durch den Lrm des ankommenden Autos aufwachten, weit nach Mitternacht.
Ausstiegen Lisbeth Grochol und Gertrud Bernaisch, nachmals Kick, die ihr
Schicksal mit unserem verknpfte, bis zur letzten Stunde auf deutschem Boden, ein
Band, das nie riss, bis zu ihrem Hinscheiden in den 60iger Jahren.
Vielleicht kann man bei dieser Gelegenheit ein wenig ber den
Begriff "Haushalt" reden. Seit Generationen hat man Hausangestellte beschftigt,
in den Kreisen, die sich das leisten konnten. Bei Kindern arbeitete eine Amme,
Pflegerin oder Gouvernante, je nach Alter der Kinder. Im Haus, Haushlterin oder
Kchin, je nach Status der Arbeitgeber. Als unterste Stufe kam jemand fr "die
groben Arbeiten". Noch Mitte des 19ten Jahrhunderts beschftigte eine Familie des
Mittelstandes mindestens zwei bis drei Hausangestellte, im Haus und bei den
Kindern. Das nderte sich auch nicht mit Beginn des 20ten Jahrhunderts, da zu
dieser Zeit bereits viele Frauen entweder selbstndig oder im Betrieb ihres
Mannes ttig waren. Die Angstellten selbst kamen vom Lande oder aus den kleinen
Stdten der Umgegend, grsstenteils aus schlechten wirtschaftlichen Verhltnissen.
Im Vergleich zu heute fhrte man den Haushalt
reichlich primitiv. Die Kche habe ich bereits erwhnt. Teppiche wurden im Hof
mit dem Handklopfer geklopft. Erst um 1930 wurde ein Staubsauger angeschafft. Im
Hof war auch die Waschkche, daselbst ein grosser kupferner Waschkessel, mit Holz
zu heizen. Zur 'grossen Wsche', die zwei Tage dauerte, wurde eine Waschfrau
zustzlich engagiert. Im Hof zog man auch die Leinen zum Aufhngen der Wsche. Die
weisse Wsche wurde gestrkt und gemangelt (gerollt) in einer handangetriebenen
Wscherolle, irgendwo in der Stadt, wohin man mit Hilfe des "Hausdieners" die
Wsche schleppte. Gebgelt wurde zu Hause, "in der freien Zeit" zwischen den
laufenden Arbeiten.
Die Arbeitsbedingungen waren: Wohnen und Essen
am Platz, alle 14 Tage einen Sonntag Nachmittag frei oder einen Abend in der
Woche; Heimaturlaub mit Retourbillet nach Abmachung. Krankenkasse und
Sozialversicherung wurden vom Arbeitgeber lt. Gesetz getragen. Es wurde auch fr
Arbeitskleidung gesorgt.
Wie die franzsische und spter die industrielle Revolution
das Heer der dienstbaren Geister im Haushalt einschrnkte, so nderte der zweite
Weltkrieg im Westen den Begriff der stndigen Hilfe in privaten Haushalten.
Steigender Lebensstandart und wachsende Bildung breiter Schichten sorgten fr
Zustrom zu den nach Arbeitskrften hungerigen Handel, Gewerbe und Industrie. Die
Zahl der im Haushalt Arbeit Suchenden sank, und das gesteigerte Lohnniveau
ermglichte nur Wenigen sich feste Hilfe im Haushalt zu halten. Haushaltshilfen
begannen nach Stunden zu arbeiten, im Allgemeinen bei der 'Raumpflege'. Aber die
Technik war inzwischen dem Haushalt zu Hilfe gekommen, in Form von Staubsaugern,
Waschmaschinen, Geschirrsplern, aber auch durch funktionelle
Mbelgestaltung, leicht zu pflegende Vorhang- und Mbelstoffe an Stelle von
Gardinenspannerei. Vielleicht auch eine neue Einteilung von Haushaltspflichten
zwischen Mann und Frau, grssere Selbststndigkeit der Kinder. Kindergarten und
Vorschule gehren heute zur Schulpflicht. Oh tempora oh mores, wie die alten Rmer
schon sagten - andere Zeiten, andere Sitten!