Benjamin Radchewski
1929-1937
Das kulturelle Leben unserer jdischen Gemeinde kann nicht als besonders lebhaft bezeichnet werden. Eine gesellschaftliche Hierarchie gab es nicht. Die Mitglieder sahen in ihrer Gemeinde nicht mehr als eine Funktion: die Sorge fr die Abhaltung des Gottesdienstes, die 'Schchita', den Religionsunterricht fr die Kinder und die Bestattung der Toten. Darber hinaus sorgte jeder fr seine eigenen Angelegenheiten und keiner sah in seiner Gemeinde ein 'cultural center' wie in Amerika.
Glaubte man im Rabiner einer Gemeinde den geistigen Fhrer zu sehen - von den Chasanim, die in unserer Gemeinde amtierten, konnte man das beim besten Willen nicht behaupten. Die beiden letzten Kantoren-Familien in Wriezen kannte ich etwas nher; mit ihren Kindern waren wir befreundet. Kantor Baruch kam zu uns mit seiner Familie im Jahre 1928. Sie kamen von irgendwo aus Ostdeutschland und waren ihrem usseren Verhalten nach zu den Klein-brgertypen zu zhlen - wegen ihres bertriebenen Ehrgefhls, das sie bei jeder Gelegenheit herausstellten. Nicht, dass sie ber ihre Verhltnisse gelebt htten - sie erstrebten etwas, das es in unserer Gemeinde einfach nicht gab - eine gesellschaftliche Stellung. Sie htten besser in eine amerikanische congregation gepasst.
Die Familie Baruch hatte drei Kinder, eine heranwachsende Tochter von bereits ber 16 und zwei jgere Shne, der Jngste, Sigi, in unserem Alter. Kantor Baruch besass einen schnen lyrischen Tenor, den er auch bei jeder Gelegenheit zu Gehr bringen suchte - weit hinaus ber sein Repertoir als Chasan. Die Schlager und Kabaret-Songs der zwanziger Jahre - von Stransky-Robitschek bis Brecht-Weill (die "Drei Groschen Oper" wurde 1928 uraufge- fhrt), aber auch "Wenn der weisse Flieder wieder blht" und hnliches genierten ihn nicht. War die Familie sich ihrer usserst selbstbewusst, so war sie jedoch jeglichen Taktgefhls bar. In diesen Jahren begann sich der Antisemitismus in unsreem Stdtchen, wie anderswo auch, zu regen, und nach 1930 schloss sich die Gemeinde immer mehr nach Aussen hin ab. Die Familie Baruch jedoch sah weiter in jedem ihren Freund. Hinter ihrem Rcken machte man sich ber sie lustig. Der Mangel an Takt und vlliges Unverstndnis fr ihre Umgebung machte sich besonders in einem extremen Fall, es war schon 1932, bemerkbar. Sie bergaben der rtlichen Zeitung eine Notiz ber das Stattfinden der jhrlichen Chanukafeier unter Hervorhebung ihrer eigenen Aktivitten. Die Witzbolde der Stadt waren mit Material versorgt und die Gemeinde tobte: man wollte sich so wenig wie mglich in Erinnerung gebracht wissen.
Die Amtszeit Kantor Baruchs fand ihr jehes Ende eines Vorfalls wegen, in den seine lteste Tochter, Betty, verwickelt war. Betty war schon beinahe 20 und begann ihren Zeitvertreib in einigen der zweifelhafteren Lokale in Wriezen zu suchen. Sie wurde bald zum Stadtgesprch und man bezeichnete sie, ihres etwas zigeunerhaften Auftretens wegen als "Tempeltnzerin", eine Anspielung auf das Amt ihres Vaters. Ein jdisches Mdchen, das sich mit den Dirnen der Stadt herumtreibt, war an und fr sich ein Absurd, aber tun dagegen konnte keiner etwas, denn die Eltern schienen nichts davon zu merken. Sie wurde von irgend jemanden schwanger - und auch hier schien ihre Mutter blind zu sein. Bis zum letzten Augenblick gelang es Betty die Schwangerschaft zu verbergen. Sie gebahr in ihrem Zimmer, ohne fremde Hilfe. Das Kind wickelte sie in Zeitungen ein und warf in die nchste Mlltonne. Dann begab sie sich, mitten in der Nacht, ins stdtische Krankenhaus und bat um Hilfe wegen eines Blutergusses. Der diensthabende Arzt glaubte ihr die ganze Geschichte nicht und benachrichtigte die Polizei. Es dauerte nicht lange bis das Baby gefunden wurde. Betty bekamm zwei Jahre Gefngnis.
Den Schock, der die Juden in Wriezen traf, ist kaum zu schildern. Die meisten lasen die Sache am nchsten Tage in der Ortszeitung, merkwrdiger Weise ohne Nennung eines Namens. Das hatte uns noch gefehlt, zu einer Zeit, da die Juden in der Provinz am liebsten unsichtbar geblieben wren. Dass dies den Antisemitismus verstrkt htte, glaube ich aber nicht. Eine dumme Gans, dem Kopf voller Stroh und Eltern, die auf weiss was eingebildet sind - das war eher die Ansicht, die die ffentliche Meinung von der Sache hatte. Den Vorfall, der heute vielleich Sozial-Arbeiter und Psychologen beschftigen wrde bergab man damals nur dem Staatsanwalt.
Herr Baruch konnte natrlich nicht lnger im Amte bleiben und musste mit Familie Wriezen unumgnglich verlassen. Trotzdem hatte diese Geschichte ein happy ending: Betty sass ihre zwei Jahre ab. Nachdem sie herauskam, begann sie in Berlin zu arbeiten und lernte dort einen Sdamerikaner kennen, der sich auf der Stelle in sie verliebte, sie heiratete und mit nach Argentinien nahm. Er ermglichte auch die Ausreise der ganzen Familie Baruch aus Deutschland.
Der Chasan, der Kantor Baruch auswechselte war ein Herr Raphl Hirsch. Besondere berufliche Begabungen scheint er nicht besessen zu haben. Seine Frau schien an die 10 Jahre lter als er gewesen zu sein und hatte einen Sohn aus erster Ehe. Das Ehepaar hatte zwei Kinder, einen Sohn, Moshe, etwas jnger als ich, und eine ltere Tochter, die doppelt geschlagen war: sie besass einen krperlichen Defekt und war auch seelisch belastet und lebte in Zwangsvorstellungen. Aber auch der Rest der Familie lebte recht entfernt von der sie umgebenden Wirklichkeit - anscheinend eine Berufskrankheit: die jdische Literatur schildert viele dieser Typen, die, gleich einem Bilde von Chagal, ausserhalb von Raum und Zeit schweben.
Zu dieser Zeit begann auch unsere Zahnregulierung - ebenso lsting wie schmerzhaft. Orthodentie wird heutzutage in der ganzen Welt betrieben - damals steckte diese Art von Zahnbehandlung noch in den Kinderschuhen. Wenige rzte versuchten sich darin und der Erfolg war nicht unbedingt gesichert. In Berlin hatte ein Prof. Simon eine neue Methode entwickelt, die er als einziger in Europa praktizierte. Die Behandlung war langwierig und na- trlich nicht billig. Seine elegante Zahnpraxis war in der Rahnkestrasse, nicht weit vom Kur- frstendamm. Man traf dort Kinder aus der ganzen Welt, die einzig und allein nur deswegen nach Berlin gekommen zu sein schienen - ein nicht geringer Teil von ihnen direkt aus Europas 'who is who'. Herr Professor waren eine usserst elegante Erscheinung, gross gewachsen und schon etwas grau meliert. Die Assistentin wies Beine vor, die jeder internationalen Konkurenz zur Ehre gereicht htten, und es war nicht eindeutig feststellbar, was, und ob sie etwas unter ihrem Schwesternkittel trug. Die perfekte setting fr jeden Hollywood Film. Die Behandlung war schmerzhaft, nicht so sehr im Augenblick, wie Tage darnach. Um die Backenzhne wurden Bnder installiert und an diese Spangen aus Platindraht eingehngt, die die Schneidezhne zurrck zu drcken hatten. Das geschah natrlich whrend vieler Monate, stufenweise, und nach jedem nen Anziehen der Drhte konnten wir tagelang nicht essen. Alle zwei-drei Monate wurden wir zur Behandlung bestellt, die sich dann bis zu vier Jahren hinzog. Was mich per- snlich betrifft, so richtete sich das Gebiss tatschlich in die gewnschte Form - die Klammern aber zerstrten das Zahnmaterial bis auf den Grund.
Was dann kam, war ein Versuch, von den Zhnen zu retten, was noch zu retten war, nicht weniger langwierung und teuer. Wre die Regulierung erfolgreich gewesen, htte man das noch hinnehmen knnen. Aber dem war nicht so: einige Jahre spter kehrten die Schneidezhne in ihre ursprngliche Lage zurrck. Das endgltige Urteil erfolgte dann in den fnfziger Jahren in einer Fachklinik in Tel-Aviv. Das Urteil: absoluter Fehlschlag. Der Name Simon erregte dort nur mitleidiges Lcheln. Der fotogene Professor, die Beine der Assistentin, schmerzendeZhne und Griesbrei whrend vieler Wochen, und nicht zuletzt das viele Geld - alles rausgeschmissen und umsonst! Und ich weiss natrlich nicht, ob die Prinzessin Herzeleide von Preussen, oder der englische Lord, deren Zahngebisse, wie unsere auch, in Gips im Wartezimmer ausgestellt waren, besser abgeschnitten sind. Und was berhaupt das Ende der ganzen frstlichen Zahnklinik gewesen ist, ob sie nicht, wie der ganze Kurfrstendamm, haushoch in Luft geflogen. Die Orthodentie von heute zerstrt nicht mehr die Zhne, alle unsere Kinder und auch schon Enkelkinder haben sie durchgemacht, mit bleibendem Erfolg. Ich kann in mir also nur ein Opfer auf dem Altar des wissenschaftlichen Fortschritts sehen...
Der Herbst 1929 brachte uns jenes Beben, dessen Schockwellen die Wirtschaft der ganzen Welt erschttern sollten und Hunger und Verzweifelung Millionen von Menschen brachten. Es erschtterte die gesellschaftlichen Grundfesten der westlichen Welt und ermglichte nicht nur den Aufstieg Hitlers in Deutschland, sondern den Zusammenbruch des Liberalismus in ganz Europa. Der zweite Weltkrieg war nur die logische Folge dieser Entwickelung.
Der Ausgang war der berhmte "Wallstreet-Krach" vom September 1929. Im Weissen Haus sass der Republikaner Herbert Hoover, dessen Partei und Ideologie die freie, unkontrollierte Marktwirtschaft befrwortete. Eine Manipulation von Wertpapieren in bisher unbekannten Ausmassen, machte den Aktienmarkt zum Spielplatz und Zeitvertreib und leichten Gewinnen sogar von Hausfrauen und Schulkindern. Dies alles ist in die Weltgeschichte eingegangen, und wer sich dafr interessiert, mag es bei John Kenneth Galbraith nachlesen in seinem Buch "The Big Crash" (er beklagte sich nur, dass am Flughafen das Buch nicht zu haben war - des Titels wegen). Seitdem haben sich manche windige Entreprneure, in kleinerem Masstabe, in diesem Spiel versucht; es sei nur an Bernie Kornfeld in den 60iger Jahren erinnert und an denisraelischen Effektenmarkt 1983. Zur Weltkatastrophe kam es 1929 hauptschlich, weil es keinerlei Kontrollen und vor allem keine Versicherung der Depositen gab.
Literatur und Film haben diese Epoche von allen mglichen Gesichtspunkten aus behandelt ("Brother, can you spare a dime?"), aber im Vergleich zu Europa, und besonders Deutschland, lebte man in Amerika noch im Luxus. Der Zusammenbruch des Geldmarktes brachte in Deutschland die gesammte Wirtschaft zum Stillstand. Das war nicht die Inflation, an die sich jeder erinnerte und frchtete. Das war tdliche Deflation. Die Preise gingen herunter, nirgendwo herrschte Mangel an etwas, aber die schwcheren Schichten waren nicht mehr im Stande fr ihr Auskommen zu sorgen; sie hungerten. Ein Heer von Millionen von Arbeitslosen konnte nur eine minimale Arbeitslosenuntersttzung erwarten. Und das Schlimmste von allem - es bestand keinerlei Aussicht auf eine nderng der Lage in absehbarer Zukunft.
Wir waren schon gross genug, um das alles zu begreifen. Der Strom der Kauflustigen im Geschft wurde weniger, Angestllte wurden entlassen. Politische Spannungen wurden wieder sprbar. 1930 gelangten 107 Nazis in den Reichstag, 25% der Mandate; aber auch die Kommunisten wuchsen, sie wurden zur dritt grssten Partei. Die politische Ausenandersetzung ging auf die Strasse ber. Blutige Zusammenstsse zwischen Nazis und Kommunisten waren an der Tagesordnung. Die Sozial-Demokraten, die strkste Partei, die auch die Polizei beherrschte, sass auf dem Zaun und guckte zu, in der irrigen Annahme, dass sich die Extremen von selbst aufreiben wrden. Das ganze ffentliche Leben ward polarisiert. Die grossen Stdte wurden zum Schlachtfeld - in Versammelungen, im Sport, auf den Universitten, Schulen und in den Jugendbnden - und, last not least, in den Biergrten.
Mit Aufsteigen der Nazis nahm natrlich die antijdische Propaganda ne Formen an. Die Juden waren an allem schuld, an der Weltwirtschaftskrise, an der Arbeitslosigkeit und vor allem am Vertrag von Versailles und den Reparationen (die sowieso seit 1930 nicht mehr gezahlt wurden). Die Juden blieben bei diesen Anschuldigungen durchaus nicht passiv und suchten sich so gut es ging zur Wehr zu setzen, in der Presse und in politischen Versammlungen. Nur, dass sie bei diesen Ausenandersetzungen keinen Partner hatten - die Nazis bemhten sich garnicht darum, mit den Juden zu diskutieren. Grundstzlich erkannten sie die brgerliche Gleichberechtigung der Juden nicht an und ignorierten sie einfach. Die Juden konnten tun was sie wollten, ihre Proteste verhallten einfach im leeren Raum. Deutschland war interessiert an dem, was die Nazis sagten, nicht aber an dem, was die Juden antworteten.
Anfang 1933 lebten in Deutschland 600,000 Juden - 1% der Bevlkerung - in vlliger Gleichberechtigung. Sie waren in religise Gemeinden organisiert. Sei Bismarck waren in Deutschland religise Gemeinden (protesdtantische, katholische, jdische) als Kperschaften ffentlichen Rechts anerkannt, die berechtigt waren, Steuern zur Deckung ihrer gemeinsamen Ausgaben zu erheben. Diese Steuern wurden durch die Stadt oder durch den Fiskus eingezogen, d.h. sie waren verpflichtend. Wer nicht einer Religionsgemeinde angehren wollte, hatte eine entsprechende Erklrung bei Gericht abzugeben. Die jdischen Gemeinden waren in Landes- und Reichsverbnden zusammengefasst. Auf religiser Ebene teilten sich die Juden Deutschlands in liberale und konservative Strmungen, mit einem kleinen Anteil der Orthodoxen und einer noch dnneren Schicht der Reformgemeinden. Die liberale Richtung machte die Mehrheit aus.
Politisch waren die deutschen Juden im Allgemeinen der 'brgerlichen Linken' zugeordnet, nicht wenige aber waren auch in der Sozial-Demokratie aktiv, und auch bei den Kommunisten, kaum aus proletarischen Kreisen, wohl aber aus intellektuellen. Jdisch-politisch rechnete sich die Mehrheit dem C.V. - dem 'Central-Verein deutscher Staatsbrger jdischen Glaubens' zu (obgleich wohl nicht ein jeder Beitrge zahlte). Die Definierung sagte alles: die Juden sind eine Religionsgemeinschaft, wie die Christen oder Moslem, und keine ethnishe Gruppe, unterschiedlich von den Deutschen. Sie erreichten auch, dass in offiziellen Dokumenten (Pssen, Volkszhlung) ihre Religionszugehrigkeit mit 'mosaisch' bezeichnet wurde. Die kleine Gruppe der Reform-Gemeinden betrachtete sich dagegen als rechts orientiert, ebenso der RJF - der Reichsbund jdischer Frontsoldaten des ersten Weltkrieges, unter Fhrung des Hauptmann Lwenstein, Kampfflieger a.D., der sich bemhte, Eindruck zu machen und seine Treue zur (alten) Fahne auf Schritt und Tritt zu bekunden.
ber das Bestehen einer zionistischen Bewegung wusste ich bis 1933 nichts. Die Bewegung war in Deutschland klein, nur wenige gehrten ihr an. Ortsgruppen existierten nur in den grossen Stdten und Mitglieder waren grsstenteils Juden aus Osteuropa - 'Ostjuden' - die nach 1918 nach Deutschland eingewandert waren und sich nicht assimiliert hatten. Die Zentrale des 'Hechaluz' und sozialistische zionistische Gruppen gab es in Berlin lange vor 1933, aber wer wusste etwas davon? Die berwiegende Mehrheit der Juden wollte auch garnichts darber wissen. Im Gegenteil, man widerstrebte dem Gedanken einer ethnischen und nicht religisen Gemeinschaft. Man beschuldigte die Zionisten, den Nazis antisemitische Argumente zu liefern und am Deutschtum der Juden zweifeln zu lassen. Die Nazis betrachteten die Juden aber garnicht als ethnische Minderheit, sondern als 'Rasse', ein Begriff, der nicht politisch oder wissenschaftlich erfassbar, sondern hchstens irrational-emotionell, also jenseits jeglicher Diskussion.
Es war in dieser Zeit, bis ich Wriezen hinter mir liess, dass wir uns den brigen Kinder der Gemeinde anschlossen. Wir waren alle inzwischen keine Kinder mehr, aber die Alters- und Bildungsunterschiede zwischen uns waren gross. Eine jgere Schicht schloss sich einer Pfadfinderbewegung an. Auch wir gehrten formell zu einer Dachorganisation, praktisch hatte das nicht viel zu sagen, wenn man nicht in die grsseren Zentren fahren wollte - und damals war man in den Kleinstdten nicht besonders mobil. Zu Beginn unserer gemeinsamen Ttigkeit befassten wir uns mit Literatur und Geschichte. Im Interesse der politischen Auseneindersetzung standen damals die Bcher von Arnold Zweig: die Grischa-Serie und ein Buch ber die Unruhen von 1929 in Erez Jisrael und dem Mord an dem Agudistenfhrer DeHaan (DeFriend kehrt heim), dessen Inhalt ich damals nicht recht begriff; die links-liberale Haltung Arnold Zweigs (Grischa) endete nicht ganz so liberal in der DDR - seine jdische Seele kann man eher als rechts-radikal bezeichnen. Geschichte (jdische) empfand ich eher niederdrckend als erhebend. Wurde sie von der Orthodoxie geschrieben, so verzeichnete sie Triumphe des Geistes, der Thora und des Talmud; die sozial-politische Situation in Ost-Europa und in den Lndern des Islam, war fr sie nicht von Ineresse. Schrieben die Liberalen Geschichte, so waren beinahe alle Probleme mit der Emanzipation gelst. Der Rest war nur eine Frage von ein bisschen gutem Willen.
Unsere jdische Umgebung war zwar weiterhin CV-orientiert - so schnell wollte man die Waffen nicht strecken. Nolens volens aber wandten wir uns dem Zionismus zu. Die Literatur, die uns zur Verfgung stand, war nicht sehr umfangreich. Vor allem waren wir an der sozialisten Richtung, an der Kibusbewegung interessiert. Es waren dies grssenteils Ausschnitte aus links-politischen Zeitschriften und Kibuz-Pamphleten - ins Deutsche bersetzt. Sie erschienen mir fremd, sogar fanatisch. Jahre spter, whrend der dreier Jahre unseres Aufenthaltes im Kibuz Ashdot-Jaakov, lernte ich einige Verfasser verschiedener Artikel kennen. Sie gehrten zu den Grndern der Bewegung und kamen aus der russischen Revolution; ihrer Mentalitt nach waren sie Leninisten - und Fanatismus und Intoleranz waren fr sie unzertrennlich von sozialistischer Weltanschauung. Tatschlich trug die Regierung Ben-Gurions in den ersten Jahren in ihrem Stil viele Zge bolschwistischer Diktatur, in der die Gremien der herrschenden Partei (Mapai) die Richtung bestimmten. Bis auf heute habe ich es nicht ber mich gebracht, mich einer politischen Partei anzuschliessen. Vielleicht nicht mit Recht.
Ein Teil der wriezener Kinder, mit denen wir whrend dieser Jahre Kontakt hatten, sind ins Land gekommen. Ein anderer Teil gelangte nach Sd- und Nordamerika. Wie vielen Familen es nicht glckte, zu entkommen, weiss ich nicht.
Es gab damals eine Reihe von 'must', ohne die eine Erziehung von Kindern undenkbar war, und, lcherlich wie es heute klingen mag, dazugehrten auch (von den Klavierstunden will ich garnicht erst reden; sie endeten ebenso schnell wie sie begannen) die Tanzstunden. Nun, Tanzen kann man, oder man kann es nicht - die erlernte Technik hilft einem nicht viel dabei. Die aus Freienwade engagierte Tanzlehrerin gab sich alle Mhe, uns die Tanzschritte der Zeit, Walzer, Tango, One-Step, Rumba, English Walse, Foxtrot - you name it - beizubringen. Das war alles schn und gut, solange man die etwas pummlige Tanzlehrerin in den Armen hatte, ohne sie war es nicht anders als beim Schwimmen ohne Leine. Im Tanzen bt man sich nur durch Tanzen, und die Gelegenheit zu einem freien, ungezwungenen Verkehr in einem grossen Bekanntenkreis war fr uns in Wriezen, als wir in das passende Alter kamen, nicht mehr gegeben - eigentlich auch nicht vor 1933. So etwas war nur in den Grosstdten mglich.
Waren wir zu Beginn der dreissiger Jahre noch nicht erwachsen genug, entsprechend den Begriffen unserer Eltern zumindest, so konnten wir doch schon mitunter in Berlin Theatervorstellungen besuchen, soalnge dies uns noch offen stand. Sehr hufig geschah dies sowieso nicht - die Rckkehr mit dem 'Theaterzug' um 12.00 Uhr Nachts vom Wriezerner Bahnhof in Berlin mit eineinhalb Stunden Fahrt war eine Anstrengung, die man sich nicht oft leistete. So versmten wir in unserem wriezener Nest eigentlich die Blhte der Kunst der weimarer Republik, und nicht nur im Theater, sondern auch in der Musik. Ich erinnere mich hier an eine der wenigen Auffrungen, die wir besuchten: 'Hoffmanns Erzhlungen' in der Regie Max Reinhards mit der unvergesslichen Barcarole im grossen Schauspielhaus. Aber Berlin als Kulturzentrum der Welt bekamen wir nicht mehr mit, und der Unterschied in Bildung und Reife von Menschen meinen Alters, mit denen ich spter zusammenkam, und die in freierer Umgebung und vor allem in Berlin aufgewachsen waren, bedrcckte mich stehts.
Im Rahmen der 'Gleichschaltung' nach 1933 wurden Juden konsequent aus Wissenschaft und Kunst ausgeschlossen - aus den Universitten und Laboratorien, aus Literatur, Bhne und Film. Die dargebotene 'gereinigte' "Deutsche Kultur" war nicht dazu angetan, Juden daran teilnehmen zu lassen. Es bestand auch das Problem, einer grossen Anzahl pltzlich brotlos gewordener jdischer Knstler ein zeitweiliges Auskommen zu verschaffen. So entstand der in der Geschichte der deutschen Juden einmalige 'Kulturbund der Juden in Deutschland'. Von den Nazibehrden ideologisch befrwortet - und politisch konrolliert, war der "Kulturbund' nicht frei in der Wahl seines Repertoir; ein Gestapo-Beamter wohnte jeder Darbietung bei. Es sollte dies das Gefhl des Ghettos und der Erniederung bestrken und zu beschleunigter Abwanderung anregen. Es bedarf keiner besonderen Erwhnung, dass das knstlerische Niveau des Kulturbunds haushoh ber der popolistisch-knstlerischen Einde des Naziregimes stand; Gbbels aber schilderte die Ttigkeit des Kulturbunds als etwas, das den Tnzen afrikanischer Stmme gleichkomme.
Viel habe ich auch vom Kulturbund nicht gesehen, aus den vorher erwhnten- und noch allen mglichen anderen, unvorhergesehenen, Grnden. Eine Oper (Nabucco), einige Schauspiele, ein oder zwei Konzerte. Immer war die Atmosphre bedrckend. Das Ende des Kulturbunds mag wohl in der Groteske des Irrsinns im Ghetto Theresienstadt geweswen sein, wo viele derer, die nicht entfliehen konnten, ihren Tod fanden.
Die Schule beendete ich im Dezember 1932, drei Monate vor Ende des Schuljahrs. Im vorhergehenden Sommer erkrankte ich schwer. Ich weiss nicht, ob es nur eine schwere Grippe, oder der Beginn einer Gehirnhautentzndung gewesen war; es dauerte Monate, ehr ich wieder auf die Beine kam. Das Schuljahr in der Untersekunda mit abschliessender 'Mittleren Reife' Prfung htte ich sowieso nicht beenden knnen. An die Mglichkeit, zum Abitur zu gelangen, dachte ich gar nicht. Der Verbleib in den Schulen der Kleinstdte war fr Juden untragbar geworden. Ich erwog noch, in einer der Textilschulen in der Czechoslovakei weiter zu lernen, gab aber diesen Gedanken bald auf. Ich konnte mich zu nichts entschliessen, in einem Gefhl der Ungewissheit, was einem eigentlich bevorstand. So begann ich mich intensiv mit Englisch zu befassen und allen Ernstes Ivrith zu lernen. Anfangs stand mir da nur ein Lehrbuch zur Ver- fgung, der "Rath", ein Lehrbuch fr humanistische Gymnasien, die Hebrisch fr angehende Theologen lehrten (es gab ein solches in Knigsberg-Neumark). Das Lehrbuch war um-stndlich geschrieben und sttzte sich vor allem auf Grammatik. Von theoretischer Grammatik hatte ich ja im Laufe der Jahre genug mitbekommen. Hebrische Grammatik ist in vielem einfacher als die der europischen Sprachen; ihre Anwendung aber usserst kompliziert. So werden die Schulkinder in den unteren Klassen hierzulande nicht zu sehr damit belastet. Grammatik ist bei uns einer der Themen des Abiturienten-Examens. Kurz und gut - ich kam verhltnismssig schnell vorwrts, und als ich mich spter, auf Hachschara, regulrem Unterrischt anschloss, brauchte ich keine Minderwertikeitskomplexe zu haben. Ich begann Bibel zu lesen, und zu meiner berraschung mit viel weniger Schwierigkeiten, als erwartet. Das heisst aber nicht, dass ich darin grosse Fachkenntnisse erworben habe und mich hier z.B.mit meiner Tochter messen knnte. In Isrl ist Bibel eben eine Art National-Sport.
Im Sommer 1934 wurde ich dann auch noch am Blinddarm operiert - im Wriezen, ohne besondere Komplikationen. Es ist mir nur in Erinnerung geblieben, weil dies mit der Nacht der Rhm-Putsches zusammenfiel. Es war da natrlich kein Putsch, wie Gbbels behauptete. Der Versuch der SA, d.h. die Strasse und die Analphabeten, endlich an die wohlverdiente Krippe zu kommen, war wohl der herrschenden Schicht ein Dorn im Auge. Ihre Shne, die SS, rumten mit dem Kehricht auf. Industrie und Wehrmacht duldeten keine Plebejer.
Ja, und dann hatten einige rzte wieder einmal etwas an meinem Herzen auszusetzen. Im Grunde genommen war immer etwas daran zu beanstanden - aber meinen ersten Herzanfall bekam ich troz alledem nicht vor 1969 - so schlimm kann es also nicht gewesen sein. Ich ging also diesen Sommer nach Bad Reinerz, zur Abwechselung mal mit Mamma. Reinerz ist seines Zeichens Herzheilbad im Glazer Bergland. Damals wusste man aber mit "Herzkranken' herzlich wenig anzufangen. Die Behandlung war nicht mehr als philosophisch. Nicht, dass mir das etwas ausgemacht htte; es fehlte mir sowieso nichts. Wie blich, wurden wir einem rtlichen Herzspezialisten empfohlen, der eine entsprechende Kur zu verschreiben hatte. Ob er etwas herausfand weiss ich nicht - eine besondere Kur wurde nicht verschrieben. Aber ein Arzt muss schliesslich von etwas leben, daher wurde jeder Patient zur 'Behandlung' angenommen. Medikamente ohne dringende Notwendigkeit, wie heute im Westen an der Tagesordnung, wurden damals nicht verschrieben. Der Name des Arztes war Dr. Hans Kuhn. ber den rztlichen Kontakt hinaus, wurden wir ein wenig bekannt. Er war, was man einen 'verbrannten' Zionisten nennt - zum ersten Mal in meinem Leben traf ich einen solchen - und spter erfuhr ich, dass er aus dem revisionistischen Lager kam. Sein Name wurde spter hier im Lande unter den rechts-radikalen Politikern gennnt. (Likud, die zeitweilige Regierungsmehrheit, grndet ihre Ideologie im Revisionismus von Vladimir Jabotinsky). In Reinerz 1934 war ein militanter Nationalismus dieser Prgung etwas gnzlich Nes fr mich, desgleichen seine etwas bertrieben herausgestrichene Religiositt. Im Grunde seines Herzens war Dr. Kuhn absolut assimiliert, sein 'Davnen' war nur Ausdruck einer politischen berzeugung - eine Erscheinung, die man heute auf Schritt und Tritt in Israel antrifft (ich rechne dazu nicht die weit verbreitete חזרה בתשובה, die eher zu dem anti-Etablishment Protest, Hippytum, Mystizismus und Rauschgiftsucht der westlichen Jugend zuzurechnen ist). Meine Mutter schien sehr beeindruckt gewesen zu sein, denn ein Jahr darauf sandte sie uns ein zweites Mal, in Begleitung vom Kick, nach Reinerz. Es war schon in der Herbstwochen, und Dr. Kuhn ludt uns ein, ihm bei der Errichtung einer Ssukka behilflich zu sein. Er hatte da noch einen Patienten meines Genre bei sich, der spter als einer der Begrnder einer deutsch-zionistischen Jugenbewegung bekannt wurde, die 'Werkleute', die ihre Ideologie in weitem Masse von Martin Buber bezogen, aber doch dann spter sich einer betont links orientierten Kibuzbewegung anschlossen. Franz Knigsberger habe ich im Land spter einmal kurz gesehen; heute scheint er Universittsprofessor zu sein. Seine Jugendbewegung, die 'Werkleute', begrndeten im Land einen gut fundierten Kibuz, 'Hasorea', der, wie alle gut situierten Kibuzim, seinen Sozialismus in der Bibleothek gelassen hat und u.a. eine bdeutende Mbelfabrik betreibt. Der Wahlspruch der Jugendbewegung aber war: "Der Tag ist kurz, der Arbeit viel, die Arbeiter sind trge und der Herr des Hauses drngt..." (Pirke Avot).
Dr. Schapiro, der Arzt der Alija-Abteilung der Jewish Agency in Berlin-Meineke Strasse, konnte es nicht auf sein Gewissen und auf seine Verantwortung nehmen, mich zur Hachschara zu besttigen. Was also tun? Man sucht nach einem Ausweg.
Die Situation der Juden in Deutschland war im dritten Jahr des Naziregimes ambivalent. Ein Strick hing zwar um den Hals, die Wirtschaft aber schien stabilisiert und auch diejdischen Geschfte gingen mehr oder weniger. Die Reichsparteitage und die Olympiade 1936 machten einen weltweiten Eindruck, nicht zuletzt durch die filmische Inszenierung von Leni Riefenstahl (der 'Reichsgletscherspalte'), die das Streben nach Ernst und Ordnung unterstrich. 1936 aber brachen auch die anti-jdischen Unruhen in Palstina aus und die britische Mandatsregierung begann die Einwanderungszertifikate zu beschrnken. Auswanderungs-mglichkeiten in andere Lnder schien es kaum zu geben. Einwanderung in die U.S.A. basierte auf deutscher Quote, auf Jahre berzeichnet. Sd-Amerika war nur bedingt attraktiv, aber auch nicht immer im Bereich der Mglichkeiten.
Eine Zukunft konnten junge Menschen troz allem in Deutschland nicht fr sich sehen und der Andrang zur Hachschara wuchs, in der Hoffnung, irgendwann doch ein Zertifikat (oder ein Visum sonstwohin) zu ergattern. Die Zentrale des "Hechaluz" in Berlin organisierte die be- schrnkte Anzahl der zur Verfgung stehenden Hachschara-Pltze.
Warum berhaupt `Hachschara' - auf deutsch 'Vorbereitung'? Die Einwanderungswelle aus Polen in Palstina im Jahre 1925 wird als die Ursache des Ausbruchs der arabischen Unruhen von 1929 angesehen. Unter arabischem Druck setzten die Englnder Einwanderungsquoten ('Zertifikate') fest, fr mittellose Einwanderer (sog. Arbeiterzertifikate) und fr Bemittelte von mindestens 1000 Sterling Kapitalistenzertifikate. Kapitalisten-Zertifikate waren im Allgemeinen nicht berfordert, aber Arbeiter-Zertifikate fr 'Chaluzim' waren beschrnkt und wurden nach den Unruhen von 1936 noch gekrzt. Der Druck zur Auswanderung und zur Alija kam vor allem aus Polen, die wirtschaftliche Lage der Juden war dort verzweifelnd, schon Jahre vor dem Krieg. Um alle, die sich der Bewegung anschlossen, organisatorisch zu erfassen, begann die zionistische Weltorganisation mit der Grndung von 'Hachscharazentren', liiert mit den verschiedenen ideologischen Strmungen der Chaluz- und Kibuzbewegung. Ihre hauptschliche Aufgabe sahen sie in Lernen von Ivrit, wenn mglich irgend eine Berufsausbildung, und aus Mangel an Mitteln naturlich Unterhalt durch Arbeit. Man lebte in den Zentren in Kommunen. Hachschar-Zentren entstanden auch in den baltischen Lndern und in der Czechoslovakei. In Deutschland hatte man die Bewegung nach 1933 von Grund auf zu bauen. Man ging von der Ansicht aus, dass zur Einwanderung in Palstina eine brufliche 'Umschichtung' notwendig sei, d.h. Berufsausbildung in Landwirtschaft und Handwerk - nach den ideologischen Preferenzen der Zeit. Die Berufspyramide der jdischen Massen, auch die der Juden in Deutschland, wurde als soziologisch ungesund angesehen; eine breite Arbeitermasse als Grundlage einer neuen nationalen Gruppierung war zu erstreben. Die Wartezeit zur Erlangung eines Zertifikates dehnte sich derartig aus, dass beinahe eine unbegranzte Mglichkeit zu beruflicher Umschichtung gegeben war. Der deutsche Hechaluz begann aber auch Hachscharapltze in Holland und Skandinavien einzurichten - man hatte, wenn auch nicht jeder, das Gefhl, dass der Sand im Stundenglass verrinne.
'Umschichtung' hiess fr die deutschen Juden natrlich frank und frei 'sozialer Abstieg' und die bittere Pille war nur zu schlucken, wenn sie einen ideologischen Unterbau hatte. Die Ideologie der gesellschaftlichen Pyramide mit der breiten Basis von arbeitenden Massen, ge- mss der Lehre des sozialistischen Zionismus, hatte ihre Berechtigung wohl in der verzweifelten Situation der Juden Ost-Europas, passte aber nicht ganz zu den Juden in Deutschland. Diese hatten ebensowenig eine proletarische Basis wie die Juden im Osten, waren aber nichts desto weniger gesellschaftlich und wirtschaftlich wohl fundiert. In Erez Jis- rael aber verlangte man eben schwielige Hnde, die den Boden zu pflgen und das Eisen zu schmieden hatten.
Jede Frage beruflicher Umschichtung war auch mit dem Ziel der Auswanderung verbunden. Nur wenige planten nach Erez Jisrael zu gehen, die Mehrheit versuchte nach bersee auszuwandern. Wer sich dennoch zur Alija entschloss, ging zur Landwirtschaft, weniger zum Handwerk. Jdische Fachschulen, wie man in Deutschland Berufsausbildung verstand, gab es nicht mehr als eine oder zwei, und die wurden bald geschlossen. Dennoch blieben bis 1938 auch in Deutschland noch eine Reihe von Hachscharazentren aktiv.
Wie gesagt, wer nicht in dem offiziellen Rahmen unterkommen konnte, suchte sich auf eigene Faust einen Ausweg. Einen solchen fand ich in der Umgegend von Berlin, beiJterbock, in einer Klitsche, die dem Sohn einer reichen jdischen Familie gehrte - allem Anschein nach ein verkrachter Playboy, den die Familie auf ein paar Morgen Sandboden und ein paar Hhnern sichergestellt hatte, mglichst weit weg von wo er noch irgend welchen Schaden htte anrichten knnen. Natrlich lag der Gedanke nahe, zur Wartung von ein paar Radieschen einige 'Praktikanten' - Hachscharisten - aufzunehemen, gegen Bezahlung, an ihn, natrlich. So trafen wir uns dort, eine bunte Gesellschaft von 5-6 Leuten, im gleichen Alter und mit gleichen Bestrebungen und Problemen; sammelten ein paar Eier ein, sten etwas Ge- mse, scheuerten ab und zu ein paar Schweine ab und verstreuten Stroh. Und dann war da auch die Dame des Hauses: in ihrer usseren Erscheinung von jenem Typ, der in manchen Filmen als 'Madame' bezeichnet wird. Ihr Haushalt sah ganz darnach aus. Ihr Mann war hufig unterwegs, und sie versuchte sich so gut es ging schadlos zu halten, von In- und Ausserhalb. Wir verbrachten einen herrlichen Sommer dort, und einige der 'Chewre' traf ich im Lande wieder. Einmischung usserer Faktoren bereiteten unserer Idylle ein jehes Ende: die deutsche Luftwaffe erffnete sich in unserer Gegend Bombenabwurfspltze. Eines Tages erschien ein Polizist und teilte uns mit, wir htten den Platz unverzglich zu verlassen; die Gegend sei zum Militrgebiet erklrt und wir gefhrdeten die Staatsicherheit.
Der Sommer war zu Ende, aber irgend etwas musste schliesslich getan werden. Wollte ich wirklich Landwirt in Erez Jisrl werden - ich htte nicht gewusst, wie so was anzufangen. Man behauptete, mit 1000 Pfund Sterling knnte man einen Meshek errichten (was natrlich nicht stimmte), aber selbst wenn, irgend eine Ahnung musste davon haben. Also weiter mit der Hachschara. In der Nhe von Stettin besass ein Jude mit Namen Peyser eine grosse Grtnerei fr Topfpflanzen und nahm Praktikanten gegen ein Taschengeld an. Die Grtnerei war ein grosser Betrieb mit vielen Treibhusern und Mistbeeten. Alles unter Glass und heizbar. Gezogen wurden Schnittblumen und Topfpflanzen, die Hauptsaison war im Winter und der Markt Stettin und Umgebung. Das Personal Nazis mit Parteiabzeichen, nach deutscher Tradition in strenger Hirarchie. Ein Obergrtner kommandierte die Angestellten und Arbeiter, aber Peyser, der Besitzer, war selber Fachmann und ehem. Zgling der Baumschule Ahlem, einem jdischem Internat und Weisenhaus. Er zhlte zu den 'Reformierten' und htte sich am Liebsten am Hitlergruss beteiligt. Eine kleine Gruppe von 'Praktikanten' wohnte unter primitivsten Bedingungen in einer Dachkammer, bekam 2 Mark Taschengeld die Woche und musste sich allein bekstigen - wie, interessierte keinen. Dafr war jeder verpflichtet zu gewissen Stunden auch des Nachts raus zu gehen, um fr die geordnete Abheizung der Treib- huser zu sorgen. Geheizt wurde mit Koks.
Beruflich war die Grtnerei Peyser ein interessanter Betrieb. Die Hauptartikel waren Chrysanthemen und Flieder. Die Chrysanthemen, mindestens ein Dutzend verschiedener Sorten, wurden in Tpfen gezogen und zur gewnschten Zeit durch Anheizen zum Blhen gebracht. Die Fliederstruche waren im Freien in Beeten gepflanzt. Drei Wochen vor der geplanten Schnittzeit wurde ber diese Beete ein (transportabeles) Warmhaus gesetzt. Die Stucher waren natrlich kahl und der Boden gefroren. Wenn ich sage transportabel, so bedeutete das damals keineswegs Leichtmetal und Polyethylen. Zwei Zoll starke Eisenrohre, eiserne Fensterrahmen und Glass, ein Koksofen - der Bau der Pyramiden war im Vergleich zu dieser Arbeit ein Picknick. 24 Stunden Cyano-Gas und stufenweises Anheizen - und nach drei Wochen gab es duftenden Flieder, ein wenig blsslich zwar, aber wer nahm um die Weihnachtszeit daran Anstoss!
Vom ersten Tage an war es mir nicht mglich, mich dem Personal zu nhern oder anzupassen - ich versuchte es auch gar nicht. Sie waren untereinander wie Hund und Katze und jeder suchte den anderen durch Arbeitstempo zu bertrumpfen, ohne dass er irgendwelche Vorteile davon gehabt htte. Man nannte so etwas damals Berufsstolz. Von Anfang an hatte ich da kaum Aussicht, mitzuhalten. Der Bos aber, der gerne wollte, dass sein jdischer Praktikant fr zwei Mark die Woche die Arbeiter unter den Boden schaufele, fhlte sich in seinem Deutschtum getroffen. Ich meinerseits versumte ostentativ am Ende der Woche die zwei Mark abzuholen - in seinen Augen einfach eine Beleidigung und Strung der ffentlichen Ordnung. Ich versuchte noch eine Weile standzuhalten, indem nach Stettin zu Bekannten zog und mit der Bahn jeden Tag zur Arbeit fuhr. Von sich aus hatte Herr Peyser natrlich recht. So wie er es sah, passte ich wirklich nicht in seinen Betrieb. Jahre spter traf ich einige Jungens, die gleich mir im Betrieb Peyser gearbeitet hatten. Sie waren alle krperlich viel krftiger, und dazu waren sie noch Berliner, mit einer Riesenschnauze und usserster Frechheit begabt. Peyser wagte bei ihnen nicht mit der Wimper zu zucken, trotzdem sie ausreichend gefaulenzt hatten. So sagten sie.
In Stettin schloss ich mich der Ortsgruppe des 'Hechaluz' an. Zu meiner grssten Ent-tuschung konnte ich, was Ivrit anging, absolut nichts lernen - keiner hatte von nichts eine blasse Ahnung. Alles lebte in Ungewissheit. Die Aussichten auf Alija waren Nil. Viele hatten Existenzsorgen und wussten nicht, wie lange sie noch ihre Hachschara wrden hinziehen knnen. Die Aussichten fr Auswanderung nach bersee waren nicht besser. Eine Einreise in die U.S.A. war nur noch mittels Affidavit mglich - die Mglichkeiten fr Sd-Amerika ungewiss und widersprechend. In der Mehrheit der Flle lief es auf Bestechung heraus; die Einwanderungsbehrden in den entsprechenden Lndern wollten dann die Einreise-Visen nicht anerkennen und steckten sogar die ahnungslosen Einwanderer ins Gefngnis.
Nicht berraschend fr mich erklrte Herr Peyser meine Arbeit bei ihm im Februar fr beendet. Ich passe nicht in einen kommerziellen Betrieb. Trozdem war ich deprimiert. Ich habe spter in dem Pardessim von Kfar Saba und am Toten Meer schwere krperliche Arbeit geleistet und bin hinter keinem nachgehinkt. Die Wahrheit liegt woanders: in einen hierarchischen Betrieb muss man sich eben einpassen knnen. Dennoch habe ich viele interessante Sachen in der Grtnerei gelernt, nur, dass es 40 Jahre dauerete, bis ich sie htte anwenden knnen. Und da waren sie bereits berholt.
Zu Hause begann ich mich fr ein Projekt der JCA - Jewish Colonisation Assosiation - zu interessieren, eine Gesellschaft, die um die Jahrhundertwende landwirtschaftliche Ansiedlung von Juden in Argentinien erstrebte und auch Siedlungen errichtete. Die JCA suchte Jugendliche fr ein landwirtschaftliches Ausbildungsprojekt mit dem Ziel Argentinien zu interessieren. Bei nherer Untersuchung stellte sich heraus: 1. Man muss sich verpflichten, nach Argentinien auszuwandern und sich in Siedlungsgebieten anzusiedeln. 2. In Deutschland selbst hat die JCA kein Ausbildungslager und weiss auch nicht wie ein solches zu organisieren. 3. In Argentinien ist das Ansiedlungsprojekt der JCA seit langem von der Bildflche verschwunden und und es bestehen Zweifel, ob sich dort noch Juden mit Landwirtschaft befassen. Das aber war meine kleinste Sorge. Wenn schon nach Sd-Amerika auswandern, warum dann als Landwirt, wenn wirkliche Existenzmglichkeit nur im Handel besteht? Ich wollte nunmal nach Palstina und da stiess ich auf eine Annonce in der Zeitung: "Hachschara in Holland, Ausbildung in Landwirtschaft und Handwerk". Der Platz war 'Werkdorp Nieuwesluis` im Wieringermeer Polder. Grnder und Curatoren des Projekts: 'Stichting Joodse Arbeid' - Amsterdam. Die Antwort auf meine Anfrage liess nicht auf sich warten; man teilte mir mit, ich sei aufgenommen und solle meine Sachen mit der Nummer 150 versehen. Inliegend ein Antragsformular zur Besttigung von Devisen zur monatlichen Bezahlung. Noch ein Kuriosum: die Nazis besttigten Devisen fr Ausbildung im Ausland.
Die Zeilen ber die Jagd nach der 'Umschichtng' stimmen mich nachdenklich. Sozio-konomisch gesehen war eine berufliche Umgruppierung zum Zweck einer Auswanderung nach bersee nicht erforderlich; der Weltarbeitsmarkt war das Problem, nicht der Beruf. Die Hachschara-Zentren in Ost und West waren eine Palliative: eine Menschenreserve ideologisch und organisatorisch zu erfassen, um sie zu gegebener strategisch einsetzen zu knnen - die zu grndenden Kibuzim sollten die Landkarte eines knftigen Israels bestimmen. In Abwandelung des englischen Sprichworts: der Kampf um den jdischen Staat sollte in den Hachschara-Zentren Europas gewonnen werden. Im Rauch und Trmmern vom Ghetto Warschau ging dann dieser Teil Erez Jisraels verloren.
Und das Mrchen von der breiten soziologischen Basis von Arbeitern und Bauern als Grundlage der gesellschaftlichen Pyramide eines 'gesunden Volkes' ist lngst vergessen. Die breite Masse von heute, die den finanziellen, industriellen und wissenschaftlichen Be- drfnissen der modernen Marktwirtschaft dient, sind nicht nur die Industriearbeiter sondern in steigendem Masse die Akademiker, Familien, deren beide Teile arbeiten, mit nicht mehr als zwei Kindern - mit relativ hohem Lebensstandart. Die Mnner mit Schaufel und Hacke und schwieligen Hnden finden heute immer schwerer ihren Platz. Nicht mehr als 3% Landwirte sind ntig, um ein Land ausreichend zu ernhren.