Benjamin Radchewski
1922-1924
Ich habe nie behauptet Fachmann in Erziehungsfragen zu sein. Ich kann mich aber schwer einer Kritik enthalten ber die Art in der wir aufgezogen wurden. Der Rahmen unserer Erziehung war noch auf der viktorianischen berlieferung begrndet - die sich selbst zu nicht geringem Teil auf den Aberglauben vorangeganener Generationen sttzte. Lisbeth und Gertrud fhrten von Anfang Hausordnung und Lebenstil, wie er unserer Mutter genehm, fort. Ihre Anschauungen unterschieden sich nicht viel von denen unserer Mutter - sie waren im gleichen Rahmen aufgewachsen
Ein Axiom dieser Auffassung war, dass Kinder ins Kinderzimmer gehren. Am Tisch von Erwachsenen ist fr Kinder kein Platz, es sei denn an Freitag Abenden oder sonstigen besonderen Ereignissen. In Gegenwart von Fremden oder Gsten reden Kinder nur, wenn sie gefragt sind (nicht, dass diese Regel immer befolgt wurde, ein Verweiss aber war in jedem Falle sicher). Die Dit fr Kinder hat gesund und nahrhaft zu sein, wie z.B. Spinat oder Milchreis. Kaffee ist streng verboten, erlaubt ist hchstens der Ersatz in Form von Malzkaffee. Da man auf Kaschrut achtet ist es verboten Wurst mit Butter zu essen, sondern nur mit Hhner- oder Gnsefett - jdischer Ansicht nach beide von hchstem Nhrwert, wenn auch schon damals einige rzte anderer Ansicht waren - und ganze Jahrgnge es in Karlsbad bssten. Nach alledem war ich ein schlechter Esser. Der Gesundtheitszustand eines Kindes wurde damals an der Menge Essen, die es hinunterwrgte, gemessen. Daher versuchte man alle erdenklichen Wege um dem Mangel abzuhelfen, ohne ersichtlichen Erfolg. Das Problem erreichte seinen dramatischen Hhepunkt einige Jahre spter im Kinderheim an der Nordsee, und ich komme noch ausfhrlich darauf zurrck. Nur eines an dieser Stelle: Nie im Leben habe ich verstanden, warum man jemanden zum Essen zwingen muss; ein gesunder Mensch wird zu gegebener Zeit hungerig - und einen Kranken behandelt der Arzt. Dass ein gesundes Kind sich zu Tode hungert - so etwas gibt es nicht. Tatsache, wenn ich vor mir hatte was ich liebte, Fleisch und Wurst und nicht Fisch und Weisskse, konnte ich ganz schn reinhauen, wie jeder andere auch.
Wir entdeckten bald, dass Lisbeth und Gertrud fromm waren, nat.rlich gehrten sie zu der Religion jenseits der Gesellschaftsschranke. Sobald wir vier Jahre alt waren, kam unsere Mutter zu uns abends ans Bett betete mit uns ùîò éùøàì, dass wir bald auswendig hersagen konnten, dessen Inhalt wir aber nat.rlich nicht verstanden. Es waren dies seltsame und merk-wrdige Worte, die, unerklrlicher Weise, alle mglichen Assoziationen und Hintergedanken aufkommen liessen. Im Grunde genommen ist besagter Abschnitt (Deut. 6.4.) nicht besonders schwierig zu verstehen - wenn man die Sprache kann. Es ist davon die Rede, dass Du von f.h bis spt dir diese Dinge vor Augen halten sollst, sie Dir an die Stirn binden in Form eines Wrfels und sie Dir an die Tr nageln, in Form eines Rhrchens oder einer Zigarette. Aber bist Du kein Orientalist, der alte Sprachen kennt, so bleibt Dir blos die Mystik des Wortklangs, fremdartig und drohend; you can never know... Und so waren wir als Juden gefangen in den Schranken der Distanzierung zwischen "uns" und "ihnen". "Sie" mit ihrem Jesus, der sicher so manches gegen uns einzuwenden haben wird, schon deshalb, weil wir nicht "dazugehren". Vorsicht war also in jedem Fall geboten!
Die Religiositt Gertruds und Lisbeths hatte eine besondere Frbung, etwa wie sie in Amerika im "Bible Belt" zu finden ist. Sie gehrten beide keiner Sekte an, sondern einer Bewegung, die sich "Entschiedenes Christentum" nannte. Diese Bewegung, die ihren Platz innerhalb der Landeskirche sah, wollte ihren Anhngern ein intensiveres religises Leben ermglichen. Auch in Wriezen hatte die Bewegung eine Ortsgruppe. Ihre Mitglieder waren einfache Menschen, Arbeiter und Subalternbeamte und meistens blutarm, die mit ihren wenigen Groschen die Ortsgruppe unterhielten und ihrem Prediger ein Hungergehalt zahlten. Sie kamen an zwei oder drei Abenden in der Woche zusammen, zur Andacht, Predigt und freiem Meinungsaustausch. In Westeuropa und im protestantischen Deutschland war der Bewegung auch ein Diakonissenorden angeschlossen, der sich Missionsarbeit in bersee zur Aufgabe gemacht hatte (Wir verbrachten einmal in dem Diakonissenhaus in Bln.-Rahnsdorf, dem auch eine Hotel-Pension angeschlossen war, in Begleitung Gertruds natrlich, unsere Weihnachtsferien). Damit wre vielleicht das Thema als Kurios erschpft - htte nicht die Geschichte dieser Bewegung noch eine Aufgabe vorbehalten: sie wurde zur beinahe einzigen anti-nazi Untergrundbewegung whrend der letzten Jahre des dritten Reiches. Einige der Offiziere des 20ten Juli 1944 gehrten ihr an. Spter gingen die ersten Persnlichkeiten, die Kontakt zu Isreal suchten, aus ihren Reihen hervor.
So merkwurdig wie das alles klingen mag, Gertrud war von Hause aus katholisch, aber sie zog die protestantische Atmosphre vor. Ich entsinne mich auch nicht, sie einmal am Sonntag in die katholische Kirche gehen gesehen zu haben. Nicht, dass sie formell zum Protestantismus bertrat. Sie fhlte sich in ihrer E.C. Bewegung daheim und blieb ihr bis zum Ende ihrer Tage treu. Gertrud und Lisbeth waren in tiefster Seele glubig, aber keine Missionre. Das Judentum sahen sie als einen Teil des Christentums, wenn auch einen unvollstndigen, an.
Die Jahre 1921-1923 zeichneten sich durch Inflation und Unruhen aus. Umsturzversuche von Links und von Rechts. Der Kapp-Putsch f.hrte zur Besetzung des Ruhrgebiets durch die Alliierten. Fr die Hungerden und Verzweifelten waren die Unruhen nicht so ganz politisch; sie gab es gar keinen anderen Ausweg, als auf die Strasse zu gehen. So sammelte sich im Winter 1922/23 auch in Wriezen eine tobende, drohende Menge auf der Strasse. Schaufenster wurden eingeschlagen und grosse Polizeikrfte rckten von Ausserhalb an, um Ordnung zu schaffen. Die Kaufleute am Ort beschlossen eine Aktion zur Besnftigung der Massen: jedes Geschft liess eine Anzahl Bedrftiger ein und verteilte an sie Waren in Hhe einer bestimmten Summe, Kleidung und Lebensmittel, unter dem Schutz der Polizei. So auch bei uns. Whrend eines ganzen Tages strmten die Menschen durch den Laden und empfingen ohne viel zu reden was man ihnen gab, Wsche, Bettwsche, warme Kleidung. Man weiss natrlich nicht, was mehr zur allgemeinen Beruhigung beitrug, die Aktion oder die Polizeikfte, die auch weiterhin in der Stadt verblieben. Die Polizisten von Ausserhalb wurden in den Brgerhusern einquartiert. Auch bei uns residierte ein Schupo mehrere Wochen. Er gehrte einer Sondereinheit an, hnlich der Grenzpolizei heute. Mehr als einmal wurde er des Nachts zum Einsatz herausgerufen. Ruhe trat erst mit Stabilisierung der Mark im Jahre 1924 ein.
Im Mrz 1922 wurden wir sechs Jahre und danit schulpflichtig. Damals begann das Schuljahr nach den Osterferien, im April. Eingeschult wurde man damals in die siebente Klasse als erstes Schuljahr, spter in die achte. Wie bereits erwhnt, war die Grundschule fr Knaben unser Nachbargebude, daher mir nicht ganz unbekannt. Aber vom ersten Tage an hasste ich jede Minute, die ich innerhalb dieser Mauern verbringen musste und in gleichem Masse auch spter das Gymnasium. Ich brachte es nicht einmal bis zur Mittleren Reife, d.h. bis zum Abschluss der Unter Secunda. Gewiss gab es Grnde daf.r, und ich komme noch auf sie zurrck - aber in erster Linie war es die Flucht vor einer Wirklichkeit, an die ich mich nie gewhnen konnte.
Schon am ersten Schultag bekam ich einen Schock. Mamma brachte mich in die Klasse, desgleichen noch an die 60 Mtter mit ihren Sprsslingen. Einige der Kinder heulten wie die Schlosshunde, andere, auf der Strasse aufgewachsen und an die rauhe Umgebung gewhnt, tobten und b.llten wie besessen. Ich war wie betubt. Mit 60 Kindern in einer Klasse, von denen ich kaum jemanden kannte oder gesehen hatte, war mehr, als ich im ersten Augenblick verarbeiten konnte. Dabei waren es sicher alle ganz normale Kinder - nur ich hatte Angst, dass ich selbst nicht fhig sein .rde, es ihnen gleich zu tun, herumzurasen, zu schreien und sich mit anderen zu prgeln. Eine Niederlage und die damit verbundene Blamage war unausbleiblich! Ich wollte nichts als Ruhe um mich haben.
Der Lehrer betrat die Klasse und die Mtter zogen sich zurrck, nicht ohne dass sie versuchten, ihre Shne noch etwas aufzumuntern. Ohne rechten Erfolg, denn die, die weinten, begannen nur noch strker zu jaulen, und die, die herrumtobten, sahen sich jetzt .berhaupt jeglicher Aufsicht enthoben. Der Lehrer aber, der inzwischen seinen Platz auf dem Katheder eingenommen hatte, schaffte innerhalb weniger Sekunden Ruhe. Er erreichte dies dank eines der deutschen Seele - built in - Mechanismus, nhmlich die Angst vor der Authoritt und der Buckel vor dem Vorgesetzten. Es wurde muschenstill. Und dann befahl der Lehrer mit der Stimme eines Feldwebels: Aufstehen! Vordermann! Still gestanden! Setzen! Austehen! Und so weiter von Beginn. Und wenn sich unter den Bengels noch Rebellen gegen die ffentliche Ordnung befanden, die Angst vor dem Kommandanten kriegte auch die Abgebrhtesten klein (in den Worten von Norman Mailer in seinem Buch "The Naked and the Dead": ein Soldat muss vor seinem Vorgesetzten mehr Angst haben als vor dem Feind; das ist das Geheimnis des guten Soldaten!). Darnach Einben des Sprechchors: "Guten Morgen", alles unter "Still gestanden", ausgerichtet. Mit sechs Jahren.
Nachdem das notwendige Mass an Verbldung und Einsch.chterung erziehlt war konnte der Lehrer zur Tagesordnung .bergehen. Zuerst Apell: die Namen der Schler wurden in alphabetischer Ordnung aufgerufen und hatten mit einem krftigen "Hier" beantwortet zu werden. Die Kinder selbst verstanden nicht recht, was man von ihnen noch wolle und empfanden die Aufrufung ihres Namens als weitere Drohung. Whrend der ersten Schuljahre fand ein solcher Apell jeden Morgen statt - in einer Klasse von 60 Kindern wahrscheinlich unumgnglich. Es da.rte aber einige Tage bis man sich daran gewhnte. Am ersten Tage jedenfalls begngte sich der Lehrer mit dieser bung, und nach zwei Stunden wurde die Klasse nach Hause geschickt.
Schreiben lernte man damals in der siebnten Klasse noch mit Schiefertafel und Griffel. Bleistift und Schreibheft waren fr eine fortgeschrittnere Stufe reserviert. Die Schiefertafel war liniert. Die Buchstaben hatten genau zwischen die gezogenen Linien geschrieben zu werden, zwei enge fr die kleinen Buchstaben und eine weitere f.r die grossen. Schreiben und Lesen lernte man gleichzeitig, das Schreiben in gothischer Schreibschrift. Lesen lernte man aus der Fibel, dort erschienen parallel die Buchstaben in Druck- und Schreibschrift neben assoziativen Bildern. Ausser Russland und Griechenland war Deutschland das einzige Land in Europa, das sich nicht lateinischer Schrift bediente. Gothische Schrift ist umstndlich, besonders f.r Anfnger. Der erste Buchstabe, den wir lernten war der Buchstabe 'i', eine komplizierte Sache, bestehend aus drei Strichen, ungefhr so: /|/ - auf, ab, auf, Pnktchen oben drauf! Aber das war noch nicht alles. Man hatte auf Haarstrich und Grundstrich zu achten, d.h. der aufwrts gehende Strich dnn, der abwrts gehende dick. Das war schon beinahe Kalligraphie und nicht etwa ein Mittel zu einfacher und schneller Kommunikation (Aus diesem Grunde erlaubten die Schulen spter die Fllfeder nicht, die keinen Grundstrich und Haarstrich hervorbringen kann). Geht man weiter im Alphabet, so kommt man zu dem Buchstaben G oder g, die schon zeichnerisches Knnen erforderten. Wer erinnert sich nicht an den Violinenschlssel der Noten: ein gothisches 'G'. Mit usserster Sorgfalt hatte man Hhen- und Lngenunterschiede bei grossen oder kleinen Buchstaben zu beobachten. Lesen - ein Hindernisrennen! Die einzige Erleichterung dabei war, dass man nach kurzer Zeit den Text auswendig und einfach simulieren konnte. Lesen und Schreiben hatten ihre Gesetzte, die aufs Peinlichste befolgt werden musste. Zur Durchfhrung der Gesetze diente ein alt bewhrtes Mittel: der Rohrstock.
Der Rohrstock selbst symbolisierte den Unterricht. Das Zchtigungsrecht, ich entsinne mich nicht bis zu welchem Alter, war laut Gesetz Eltern und Lehrern gegeben. Es gab Lnder, deren Justizwesen die Krperstrafe kannte. Im fortschrittlichen Westen aber war die Zchtigung nur den Eingeborenen der Koloniallnder vorbehalten. Nicht so im westlichen Erziehungssystem. Krperliche Zchtigung wurde als unerlsslicher Teil der Erziehung betrachtet. Bestraft wurden nicht nur irgendwelche Vergehen, sondern vor allem Nichtwissen. Der Stock gehrte sozusagen zur Notengebung; die Zensur fr Fehlleistungen war der Stock - ausser, natrlich, der Sitzordung auf den Schulbnken. Versagen bei Prfungen, mndlich oder schriftlich, Nichtanfertigung von Hausaufgaben, unleserliche Handschrift - alles da war strafbar, wie gewhliche Bubenstreiche. Jeder Lehrer hatte seine eigene Methode. Manche riefen die Schuldigen sofort hervor zum Strafvollzug, andere liessen nach Beendigung der Stunde dazu antreten. Der Strafe gegenber stand der Lohn: er fand seinen Ausdruck in der Platzordung. Erster Platz, erste Reihe war dem Klassenprimus vorbehalten. Letzter Platz, letzte Reihe dem Versager. Stndiges Wechseln der Pltze whrend der Unterrichtsstunde in Folge von Gelingen oder Versagen beim Schreiben oder Rechnen hielt die Klasse in stndiger Bewegung.
Auch die Anwendung des Rohrstocks war verschieden. Jungens pflegte man aufs Hinterteil zu dreschen, im Allgemeinen ein Schlag, wenn es sich nicht um einen aussergewhnlich Fall handelte. Mdels, aus Grnden der Sittsamkeit, schlug man auf die Hand, was viel schmerzhafter war und man manchmal nicht den Griffel halten konnte. Eigentlich waren die Behrden, wie auch die rzte, gegen das Schlagen auf die Hnde - und absolut verboten waren Ohrfeigen. Die Lehrer aber, wenn es ihnen in den Kram passte, scherten sich nicht viel um die Verbote. In jedem Falle hatte der Schler die Strafe wie ein Mann und ohne Wimpernzucken hinzunehmen. Im Gymnasium wechselte dann in den unteren Klassen die Maulschelle gnzlich den Rohrstock ab, ebenfalls im individuellen oder kollektiven Strafvollzug. Von Terzia ab begngten sich die Lehrer dann mit besonderen Bezeichnungen, meisten dem Tierreich entnommen. (Die Abschaffung der Kprestrafe in den Schulen war vergangens Jahr das Thema einer strmischen Debatte im britischen Unterhaus. Aber das verwundert nicht weiter, die Englnder hassen ihre Kinder. Wer es nicht glaubt, kann's bei Dickens nachlesen, aber auch in der einschlgigen modernen Fachliteratur.
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, mit 60 Kindern in einer Klasse fertig zu werden war keine leichte Aufgabe fr einen Lehrer. Ein grosser Teil der Kinder kam aus sehr rmlichen, manchmal zer.tteten Verhltnissen, von Eltern, die ihren Kinder nicht das Geringste an Erziehung oder Bildung vermitteln konnten und sie auf der Strasse aufwachsen liessen; sie hatten nicht die Scheibe Brot in der Frhst.ckspause zu essen, geschweige denn Fibel und Bleistift zum Schreiben, von Schuhen und Kleidung garnicht zu reden. Ungewaschen und verlaust verbreiteten sie die Luse in ihrer Umgebung, vor allem die Mdels. Mit Aufkommen des Bubikopfs und der Mode der kurzen Haare der Frauen Mitte der zwanziger Jahre verschwand diese Plage zwar von der Bildflche.
Ich weiss nicht, ob der Prozentsatz der Kinder, die im zweiten oder dritten Schuljahr noch Schwierigkeiten beim Lesen hatten, grsser oder kleiner war als heute. Im zweiten Schuljahr lass ich alles andere als fliessend. Auch von allem .brigen hatte ich keine Ahnung, nicht vom Rechnen und sicher nicht vom Schreiben. Ich konnte einfach nicht lernen, nicht wegen zu niedrigem IQ oder irgend welchen seelischen Strungen, sondern weil ich mich einfach nicht an die Schule gewhnen konnte, an die Kinder und an den Lrm; vor jedem neuen Schultag hatte ich Angst und ich war ausserstande, irgend etwas aufzufassen. Mit Schluss des ersten Schuljahres wurde ich 'versuchsweise' versetzt. Ich weiss nicht, ob die Schule das aus Rcksicht meinen Eltern gegenber tat - auch so etwas gab es. Auch im darauf folgenden Jahre geschah das Gleiche; im dritten Jahr war ich schon nicht mehr in der Schule. Ausserdem war ich viel krank; es wurden aber, namentlich im ersten Schuljahr kaum Fehltage verzeichnet: der Lehrer fehlte nicht weniger als ich...
Eines mchte ich an dieser Stelle unterstreichen und festellen: whrend meiner ganzen Schulzeit, bis zum Winter 1932/3, habe ich bei meinen Lahrern nie usserungen von Antisemitismus gesprt. Nicht sie waren schuld daran, dass ich ein schlechter Schler war. Die Zensuren, die ich bekam, waren objektiv. Der Direktor des Gymnasiums bemerkte einmal meiner Mutter, ich wrde mein Potenzial nicht ausntzen. Konnte ich ihm erklren, weshalb?
Schularbeiten machen war ein stndiger Kampf. Es gelang mir nicht, mich davor zu drcken, daf.r sorgte Gertrud mit eiserner Hand. Die Buchstaben verschwammen vor den Augen, der Griffel rutschte von der Schiefertafel ab. Am Schlimmsten war Rechnen. Ausser einigen wenigen Grundregeln kann man Rechnen nhmlich nicht erklren. Die Zahlen fasst man intuitiv auf, mit dem Ohr oder mit dem Auge, dem Zahlenbild oder dem Klang der Zahl. Daher lernt man das Einmaleins auswendig (das kleine, bis 100), vorwrts und rckwrts - in der Klasse meist unter Androhung des Stocks; aber auch Mamma hatte wenig Geduld: eins, zwei flogen die Backpfeifen von links und von rechts.
Meta hatte weitaus weniger Probleme in der Schule. Ich weiss nicht, ob sie eine bessere Schlerin war, sie passte sich aber besser ihrer Umgebung an und war weniger empfindlich. Denn auch in der Volksschule f.r Mdchen herrschten Lehrerinnen, alte Jungfern, mit erhobenem Stock .ber Klassen von 60 Kindern. Freundschaft zu andereren knpfte auch Meta nicht an.
Jede Klasse der Grundschule hatte ihren festen Lehrer, der alle Fcher lehrte. Eines der ersten "Nebenfcher" auf dem Stundenplan war "Religion". Der Lehrer begann mit einer Erzhlung aus der biblischen Geschichte, der Auszug Abrahams aus seiner Heimatstadt Ur-Kasdim, an der Spitze einer grossen Familie, 20 Shne und Tchter hatte er. Nicht ohne Grund begann der Lehrer mit dieser Erzhlung: es lebte in Wriezen ein altes Ehepaar mit (Nach)namens Abraham, zur jdischen Gemeinde gehrend. Es hatte, nach biblischer Tradition, es tatschlich im Laufe der Jahre zu 20 Shnen und Tchtern gebracht. Der alte Abraham wurde in der Stadt als eine Art biblischer Patriarch angesehen. Einer seiner Enkel sass mit mir in der Klasse und hrte sich, wie alle, mit aufgesperrtem Mund und Augen die Geschichte an. Und dann fragte ihn der Lehrer, ob er den Herrn Abraham kenne. Der kleine sah ihn verblfft an, wo sollte er die Bekanntschaft des Herrn Abraham aus Ur-Kasdim gemacht haben? Die ganze Klasse lachte laut, dass einer seinen eigenen Grossvater, der 20 Kinder habe, nicht kenne. Natrlich hielten sich die Geschichten nicht lange mit der Bibel auf, sondern gingen bald zum Neuen Testament .ber - und wir nahmen nicht lnger am Religionsunterricht teil.
Die Gesangstunde war eine Tortur besonderer Art. Zuerst bte der Lehrer, die Geige in der Hand, Tonleitern, alsdann ging er zu den bekannten Volksliedern .ber. Es war aber hier keineswegs gemeinsamer Gesang beabsichtigt. Das Ziel war absolute Disziplin und Prfung musikalischen Gehrs. Wehe dem, der nicht haargenau die Melodie erfasste: eins mit dem Bogen war die sofortige Antwort. Schliesslich war das Singen eine viel zu ernste Sache, um sie Kindern einfach zum Vergngen zu .berlasen. Dazu gehrte auch das Auswendiglernen der Texte. Die Texte der meisten Volks- und Wanderlieder stammten aus dem 19ten Jahhundert und hatten mehr als nur die eine Strophe, die im Volksmund bekannt war. Der Lehrer bestand aber nicht selten darauf, alle Strophen eines gerade behandelten Liedes auswenig zu lernen - nicht anders als Gedichte und Bibelstellen - ein Unfung, der sich auch hierzulande bis in unsere Zeit erhalten hat. Es gibt eben Unkruter, die lassen sich nur schwer ausjten.
Die grossen Ferien dauerten zu unserer Zeit vom 1. Juli bis zum 1. August. Im Grossen Ganzen war die Anzahl der Ferientage nicht unterschiedlich von heute, nur die Verteilung war etwas anders. Die Herbstferien (Kartoffelferien - aber wer ging zu unserer Zeit noch Kartoffel buddeln) dauerten drei Wochen, Weihnachts- und Osterferien 14 Tage. Den Schluss des Schuljahrs mit den Osterferien erklrte man damit, 'die Abschlussprfungen nicht in die heisse Zeit fallen zu lassen'. Heiss war, wenn um 10:00 Uhr Vormittag das Thermometer 25oC im Schatten zeigte. Dann erklrte die Schulleitung Hitzeferien - ein usserst seltenes Ereignis.
In den grossen Ferien pflegte man zu verreisen - wer's sich leisten konnte. Was nun die Reiseziele anbetraf, so scheint eine Art von regionaler Einteilung bestanden zu haben. Der Nordosten Deutschlands zog die Ostsee vor, der Nordwesten die Nordsee. Dies, soweit Rcksicht auf die Kinder zu nehmen war. Alleinstehende Ehepaare neigten eher zum Mittelgebirge. In die bayerischen Alpen gelangte der Norden schon weniger.
Wie bereits erwhnt, unsere ersten Sommer verbrachte wir zumeist an der Ostsee, in Kolberg, ein grsseres Seebad und von Juden bevorzugt. Diese Bevorzugung, im Volksmund: "warum ausgerechnet", hatte ihre Grnde ausserhalb des Machtbreichs jdischer Preferenzen - nhmlich im mehr oder weniger antisemitschen Verhalten des deutschen Publikums und der Gaststtten gegen.ber den Juden. Antisemitismus war zumeist rechtspolitisch orientierten Kreisen zu eigen, Adel und Grossbrgertum, fehlte aber auch nicht dem Mittelstand und Beamtentum. Diese Leute wnschten einfach keinen Kontakt mit Juden und weigerten sich, mit ihnen an einem Tisch zu sitzen oder unter einem Dach zu wohnen. Es hatte sich daher im Laufe der Zeit ein Modus entwickelt, in dem Erhohlungsorte oder Bder, Hotels, Sanatorien oder Pensionen, oder auch einfache Zimmervermieter, ihren Unwillen in dieser oder jener Form zum Ausdruck brachten, Juden als Gste aufzunehmen. "Juden sind hier unerwnscht" - ich weiss nicht ob ein derartiges Plakat vor 1933 tatschlich existierte, als ungeschriebene Warnung jedoch bestand es: Vorsicht! Das Hamburger Israelitische Familienblatt verffentliche jedes Jahr ein Heftchen mit der Aufschrift: "Wo Juden unerwnscht sind - Ortschaften und Gaststtten die antisemitischen Charakter haben".
Diese Art der 'segregation' war nat.rlich nicht ein Pregorativ der weimarer Republik. Noch heutzutage in Amerika wird das Recht des Gastwirts, sich seine Gste nach ethnischen Gesichtspunkten zu whlen, als von der Konstitution verbrieft angesehen. Auch im damaligen Deutschland hing letzten Endes alles vom wirtschaftlichen Interesse des Vermieters oder Wirtes ab, welches Publikum ihm genehm war. Vom reinen Standpunkt der Touristik aus gesehen, fielen die Juden als Konsumenten sicher nicht von anderen Schichten der Bevlkerung ab. Wie dem auch sei - das Ergebnis war Ansammlung von Juden an bestimmten Pltzen, wenn auch gnzliche Ausschliessung von Juden aus bestimmten Kurorten selten war. Begranzt war aber auch die Anzahl der Restaurants und Pensionen streng jdisch-orthodoxen Charakters. Die meisten Juden zogen eine neutrale Umgebung vor. (Dies beleuchtet die bekannte, bei den Juden um die Jahrhundertwende umgehende Anekdote: Der Kaiser fragt Bismarck, wann er die Militrvorlage im Reichstag zur Beratung einzubringen gedenke. "Zwischen Rosch ha Schana und Jom Kipur" war die Antwort. Und auf ein Hochziehen der Augenbrauen fgt Bismarck hinzu: "Sein' Sie mal drei Wochen in Norderney, Majestt!").
Also auf zur Ostsee! In Kolberg waren wir schon einmal vor dem verunglckten Sommer mit Hedwig Laut, und zwar im Jahre 1918, im Alter von zwei Jahren. Im Sommer 1922 entdeckten die berliner Juden einen kleineren Ort an der Ostsee, wo man braun werden konnte, Bad Divenow. Bad Divenow war ein regulrer Badeort, mit Hotels, Pensionen und mietbaren Zimmern. Es hatte auch Solbder aufzuweisen, die damals gross in Mode waren. Solbdern (Meerwasser) schrieb der Grossmtterglaube, aber auch manche rzte (nicht in jedem Falle unbedingt ein Unterschied), besondere Heilkrfte zu. Und da die Temperatur der See im Sommer nur selten .ber 16oC anstieg, und nicht ein jeder so ohne Weiteres bereit war, sich in schumende Brandung der strrmischen See zu strzen, bot der Prospekt der Kurverwaltung den empfindlicheren Urlaubern Solbder an- Meerwasser in der Badewanne. Zu diesem Zwecke diente die Badeanstalt. Es gab dort Badezellen mit einer Badewanne, aber auch "Familienbder" mit zwei oder drei Wannen - fr jung und alt unter einem Dach.
Nach Divenow gelangte man .ber Stettin, heute jenseits der Oder-Neisse Linie. Am Ende des Stettiner Haffs, des Oder-Deltas, der "Bodden", an dessen Seeseite das rtchen Divenow gelegen - auf einer Landzunge - und ein Fhrdampfer sorgte fr Verbindung .ber den Bodden. Einzelheiten ber Land und Leute lassen sich bei Gnther Grass nachlesen...
Mamma und Gertrud fuhren mit uns. Zwei Zimmer mit Kche wurden gemietet und man begann den Haushalt einzurichten, ich weiss nicht mehr ob nach strengem oder liberaleren Ritus. Und wir waren absolut nicht unter uns. Aus Freienwalde Tante Rosa mit Gert und noch einem Mdelchen aus einer befreundeten Familie, Lotte Frank. Die Verhltnisse im Hause Frank scheinen damals etwas unstabil gewesen zu sein, wirtschaftlich wie persnlich - nicht dass wir Kinder etwas darber gewusst htten - und das mag vielleicht der Grund gewesen zu sein, dass meine Tante die Lotte mit sich nahm. Was Gert anbetraf, so war dies der erste von vielen nachfolgenden Sommmern, die wir gemeinsam an der See (oder im Gebirge) verbrachten.
Was mir von Divenow in Erinnerung geblieben ist, ist der Strand mit dem feinen, weissen Sand (was wusste man damals von Asphaltklumpen und Umweltverschmutzung). Das Wetter war meistens strmisch, was uns aber nicht hinderte am Strand in Badeanzgen mit Hilfe von Eimerchen und Schaufeln Schlsser und Burgen im Sand zu bauen. Strandkrbe mietete man fr die ganze Saison. Es gab auch Hhne mit Ssswasser, wo man sich den kleberigen Sand absplen konnte, meistens ohne viel Erfolg, denn der Sand klebte berall, hauptschlich in den Haaren. Im Meer haben wir wohl nicht viel gebadet - wenn berhaupt. Dazu waren die Solbder da, zur Strkung von Krper und Geist. Da man aber, wie gesagt, ausserhalb des eigenen Heims, in der Badeanstalt, die Bder nahm, beachtete man besonders streng die von Alters her .berkommenen Bruche des Wannenbades: kalte Dusche darnach, gut abtrockenen und ruhen auf der zu diesem Zweck in der Badezelle aufgestellten Liege. Sodann 'warm anziehen, denn nach einem Bad erkltet man sich leicht!' Waren die verschiedenen Kulthandelungen des Wannenbades noch leidlich zu ertragen - die kalte Dusche nach dem warmen Bad war nichts weniger als ein barbarische Tortur, und als solche verabscheute ich sie bis auf heute; fr mich habe ich sie abgeschafft, sobald ich mein Selbstbestimmungsrecht in diesen Sachen erlangte. Was die sogenannte 'Heilbder' im Meer anbetrifft, so pflanzt sich diese berlieferung auch hier im Lande fort, am Toten Meer nhmlich. Auch hier kann man die Bder in der Wanne, gewrmt, nehmen (sofern die Aussentemperatur nicht gerade 40o im Schatten zeigt). Glubige aus allen fnf Erdteilen strmen hier zum Opferdienst zusammen.
Was hat sich noch diesen Sommer in Divenow abgespielt? Oft goss es in Strmen und Eisesklte herrschte, sodass man kaum vor die Tr gehen konnte. So sassen wir rings um einen Tisch und fdelten Ketten aus Kastanien auf, die wir draussen gesammelt hatten. Wir beschftigten uns mit Knetgummi und zankten uns nach Herzenslust mit Geheul und Geschrei, zwecks Nervenzerrtterung der Erwachsenen. Einmal schliefen wir nicht eine Nacht: ein hollndisches Frachtschiff lief im Sturm auf ein Riff auf, und der ganze Ort war auf den Beinen mit Raketen und Rettungsbooten.
Der nchste Sommer, 1923, fand uns in wieder Kolberg. Den vorhergehenden Winter verbrachte ich grssenteils im Bett mit Bronchitis, und in der Schule sah man mich nicht allzu hufig. Nicht, dass mir dies besonders ausgemacht htte - was das Lernen aber anging, das war schon etwas anderes. Die meisten Kinder konnten schon fliessend lesen und das kleine Einmaleins - fr mich war Lesen und Rechnen eher Glcksache. Es schien mir daher mehr mehr als verwunderlich, dass ich am Ende des Schuljahres trotz alledem versetzt wurde, wenn auch nur wieder 'versuchsweise'.
Auch in Kolberg mietete man nach altem Brauch Zimmer mit Kche. Zu unserer -berraschung erschienen aber zwei Schwestern von Mamma, Rosa Levi und Lea Pinkus nebst Anhang: Rosa Levi mit Martin und Alli, und Lea Pinkus mit Ernst (Margot existierte noch nicht). Wenngleich wir alle mehr oder weniger im gleichen Alter waren, mit Unterschied von hchstens einem Jahr, die Kinder aus Breslau schienen ungeheuer erwachsen; sie waren sehr selbststndig und niemand war wegen irgendwelchen Kleinigkeiten hinter ihnen her. Vor allem brauchten sie Mittag nicht zu schlafen und blieben Abends bis spt auf - der Status der Erwachsenen.
Lrm und Durcheinander waren gross. Wenn wir auch an verschiedenen Pltzen wohnten, so waren wir doch immer an einem Platz zusammengepfercht, und das in der bei den Neustadts blichen Lautstrke. Den Hauswirten mag das auf die Nerven gegangen sein, aber das war eben ihr besonderes Pech und ihr geschftliches Risiko: unter denen, die an Sommerfrischler Zimmer vermieteten, waren nicht wenige Angehrige des Mittelstandes, Rentner oder pensionierte Offiziere, die Krieg und Inflation beinahe an den Bettelstab gebracht hatten, und fr die es keinen anderen Ausweg gab, um ihre Wohnungen zu halten oder auch nur ihr Leben zu fristen. Die Inflation raste im Sommer 1923 in der damaligen Welt unbekannten Ausmassen - eine Milliarde Mark der Dollar. Trotz alledem, Zimmer vermieten in Kurorten ist ein einbringendes Geschft, dass die neustadtschen Dezibellen wohl aufwog. Denn gebrllt wurde berall, ob im Haus oder am Strand. Die breslauer Familien bekstigten sich in Restaurants (Kolberg hatte eine Reihe koscherer Gaststtten aufzuweisen) - fr uns ein weiteres Zeichen des Erwachenseins; wir selbst hatten noch Angst, an solchen Pltzen zu essen. Die Familienvter, Gustav Levi und Emanuel Pinkus, erschienen einmal ber das Wochenende, unser Vater aber nicht. Wenn ich mich recht erinnere so war auch das Ehepaar Carl Neustadt nebst Schwiegermutter (eine Frau Schnell, deswegen allgemein 'Muttl Langsam' genannt), und Shnchen Gert, etwa drei Jahre alt, der sich in Meta verknallt hatte und immerzu schrie: "ein Meta soll kommen".
Was die Vergngungen anbetraf, so hatte Kolberg seine Kurpromenade mit obligatem Kurkonzert, 'leichter, klassischer Musik', am Vormittag und am Abend. Eins der grsseren Hotels brstete sich schon einer amerikanischen Jazzkapelle. Wir selbst nahmen an deartigen Unterhaltungen kaum teil, schon garnicht an den Abenden, denn lt. dem bei uns bestehendem Reglement gehrten Kinder unter 14 Jahren um sieben Uhr ins Bett.
Kolbergs Anteil an der preussischen Geschichte und dem Krieg gegen Napoleon konnte wir wohl bewundern, gelegentlich eines Ausfluges in die sogenannten 'Maikuhlen', die ehemaligen Befestigungen der Stadt, bei Kaffee und Kuchen und nicht wenig M.ckenstichen.
Unser Aufenthalt in Kolberg zog sich weit .ber die grossen Ferien hinaus (die damals nur dreissig Tage whrten), bis in den August hinein. Und berhaupt, ich kann mich nicht erinnern, dass unsere Sommerferien jemals auf nur einen Monat beschrnkt gewesen wren. Mamma lieferte den Schulen immer gen.gend Atteste und Besttigungen aus denen hervorging, warum ein Monat Ferien allein unserem fragwrdigen Gesundheitszustand nicht gerecht werden kn-ne. Die Schulleiter nahmen dies widerspruchslos hin - sei es mit Rcksicht auf unsere Eltern. Es ist kaum anzunehmen, dass man dem Kind eines Subalternbeamten so einfach nachgegeben htte; da aber dieser ein derartiges Anliegen sowieso nicht vorgebracht htte, blieb die Frage unentschieden. Dass dies unserem Bildungsgrad nicht besonders zutrglich war bedarf keiner Erwhnung, und die Aussicht, ein Musterschler zu werden, blieb auch weiterhin ein unerreichbares Ziel. Doch eines mchte ich dazu bemerken, und ich werde auch spter noch darauf zurrck kommen: ich war keinesfalls 'lernbehindert' (learning disabled) im Sinne der heutigen psychologischen Fachwissenschaft. In sympathesierender Atmosphre und Umgebung, mit einem Gefhl von Kontakt zum Lehrer und ohne Feindlichkeit von Seiten der Klasse, wre ich absolut fhig gewesen, das Lernmaterial schnell und umfassend zu bewltigen - ohne besondere Anstrengung und mit einem unbeschrnkten Gedchtnis. Das geschah einige Male whrend meiner Schulzeit, aber nur sehr selten.
Alle schnen Theorien .ber Krftigung des Krpers durch Solbder, inklusive Tiefenwirkung, wollte sich bei mir nicht bewahrheiten. Im folgenden Herbst und Winter lste eine Bronchitis die andere ab, immer mit hohem Fieber. Ich wurde aus der Schule genommen und bekam einen jungen Privatlehrer, der mich auf das ntige akademische Niveau bringen sollte. Ich weiss nicht mehr, wieweit ich dabei kam; bis ich wieder am regulren Schulunterricht teilnahm vergingen drei Jahre, und das war dann schon im Gymnasium.
Um das Gesundheitsproblem einmal von der Wurzel her anzugreifen wurde eine Batterie von rzten zu Rate gezogen, fr gewhnlich in Berlin. Einem Arztbesuch bei dem jeweilig 'empfohlenen' Facharzt sah ich immer mit gemischten Gefhlen entgegen: im Alter von zwei Jahren hatte man mir die Mandeln entfernt, drei Mal, ohne besonderen Erfolg. Zu.ck blieb nur die Erinnerung an die Narkose: jahrelang konnte ich kein Eau de Cologne riechen...
Nein, ein Besuch beim Arzt war wirklich keine Attraktion. Verssst wurde die bittere Pille durch Umweltsablenkung. Vom Stettiner Bahnhof nahm man ein rotes Taxi zur Arztpraxis, irgendwo im Westen. Besuch im Zoo, Cafe am Kurfrstendamm mit Schokolade und Schlagsahne, oder besser noch - Wrstchen und Aufschnitt im Delikatessengeschft (Koscher unter Aufsicht von Addas Jisroel). Unsere Fahrten nach Berlin waren eigentlich immer mit irgend einem Arztbesuch verbunden (in spteren Jahren zur Zahnregulierung) und dem darauf folgendem Kopfweh.
Ich machte also Kategorien von rzten durch. Kinderrzte, Hals, Nasen u. Ohren, Internisten. Jeder von ihnen hatte seine eigenen Prinzipien und Methoden. Sie waren alle Exponenten einer hervorstehenden Gesellschaftsschicht und gehrten ausnahmslos dem auser-whlten Volke an; wir waren also unter uns. Die Kinderrzte gingen zumeist von der Annahme aus, dass das Kind verzogen und Mutter hysterisch sei. Die Hals- und Nasenrzte bedauerten es immer zutiefst, wenn es nichts zu schnipseln oder zu kratzen gab. Die Internisten definierten das Problem: schwere chronische Bronchitis, die mit der Zeit auch die Lungen beeinflussen kann (Aufnahmen zeigen die Narben bis auf den heutigen Tag). Was tun? Wenn die See nicht hilft, versuchen wir es mit unmittelbarem Einfluss des Salzes: Bad Salzungen.
Bad Salzungen, im Thringschen, verfgt ber riesige Salzlager, die, soweit es sich um unterirdische Seen handelt, mit Hilfe von Salinen abgebaut werden. Die Salinen, Kilometer lange Wnde aus Dorngestrpp, an denen das Salzwasser zu Verdunstung abtropft, dienten den Heilung suchen als Kurpromenade: jeden Tag, whrend vieler Stunden, musste man hier das Salz unmittelbar einatmen, eingehllt in Nesselmntel (zum Schutz der Garderobe). Ausserdem Nasen- und Halssplungen in einem besonders dafr eingerichtetem Institut, darnach Aufenthalt in der "Trockenkammer', ein Lesesaal mit niedriger Luftfeuchtigkeit, zum Austrockenen der in der Saline aufgespeicherten Feuchtigkeit. Warum? Darum!
Unser Quartier bezogen wir im 'Kurhaus', einem kleinen Hotel, am Salzunger See gelegen, umgeben von den thringer Bergen. Unser Zimmer, im zweiten Stock, ging auf den See hinaus. gerade unter uns war die grosse Hotelterrasse. Die Mahlzeiten nahmen wir im Speisesaal des Hotels ein, zu meiner grossen Erleichterung an kleinen Tischen und nicht an einer Table d'hotes. Ebenso konnte man man la Carte essen, so dass ich irgendwie damit fertig wurde, zur Abwechselung mal nicht koscher. Das Publikum war gemischt, ein Teil Juden. Nach dem obligatorischen Besuch bei dem rtlichen, empfohlenen Arzt, began man mit der Kur-Routine.
Der Vormittag war grssenteils mit Prommenaden in der Saline ausgef.llt. Etwas anderes gab es eigentlich dort nicht zu tun. Geduld zum Hinsetzen hatte ich nicht. Ein ganzer Haufen Kinder drehte sich dort herum, die alle dasselbe taten wie ich, nhmlich vor lauter Langweile ihren Mttern den Kopf zu verdrehen. Die Erwachsenen sassen und lasen. Ich erinnere mich noch an das Buch, dass Mamma las; es war gerade in deutscher bersetzung neu erschienen und hiess: 'Tarzan bei den Affen' (1924). Das Buch wirbelte in der ganzen Welt viel Staub auf, wegen der ausgefallenen Idee darin. Wir Kinder suchten, so gut es ging, Beschftigung zu finden: man konnte Bastkrbchen kaufen und sie in der Saline aufhngen. Nach ein paar Tagen waren sie schlohweiss, mit Salz .berzogen und als Reiseandenken verwendbar. Weniger angenehm war das Nasensplen; man sass vor einem Instrument, dass in das eine Nasenloch Salzwassen mit starkem Strahl strmen lies, sodass das Wasser zum anderen Nasenloch herauskam. nach dem Prinzip des Schornsteinfegers. Nichts zu sagen: die Sache funktionierte fabelhaft und die Nase wurde rein und spiegelblank, wie ein Kanonenrohr. Nur das eine halbe Stunde spter alles wieder wie vorher war: die Nase war wieder voll, der Teufel weiss woher. Es blieb aber auch viel Zeit zu Spaziergngen in die nhere und weitere Umgebung, Bekantschaften wurden angeknpft und auch ich befreundete mich mit einigen Kindern.
Der Thringerwald ist von Sagen umwoben und reich an Geschichte. Nicht weit von Salzungen liegt das Stdtchen Eisenach, wo Martin Luther Unterschlupf fand vor seinen Verfolgern. Das Stdtchen selbst ist altert.mlich, mit Fachwerkhusern aus dem sechzehnten Jahrhundert. Auf den Bergen hoch ber Eisenach die Wartburg, ein weiterer Zufluchtsort von Luther, Sitz thringscher Landgrafen und Ort der republikanischen Kundgebungen im Jahre 1848. Will man von Eisenach zur Wartburg aufsteigen, so fhrt fr Fussgnger der Weg durch die Drachenschlucht. Ein reissender Bach ergiesst sich durch den caon; ein Steg aus Baum- stmmen ermglicht die Durchquerung. Der Sage nach sollen hier vor noch nicht langer Zeit Drachen gehausst haben, die ahnungslose Fussgnger zum Abendbrot verspeissten. Der Pfad sieht wirklich etwas Furcht erregend aus: dstere, berhngende Felsen und dazu ein Schild am Eingang zur Schlucht 'Duchgang auf eigene Gefahr'. Wohl eine Stunde lang wanderten wir hindurch, unter uns der reissende Bach, ber uns drohend mosbewachsene Felsen. Und pltzlich Sonnenlicht - wir sind am Fusse der Wartburg.
Im 16ten Jahrhundert also erlangte die Wartburg ihre Berhmtheit als Zufluchtsort Luthers und Platz der Bibelbersetzung ins Deutsche. Eine bersetzung der Bibel aus dem Lateinischen in die Landessprache war der katholischen Kirche schon immer ein Dorn im Auge gewesen, und dies nicht ohne Grund: Es zeigt sich nhmlich bei nherer Durchsicht der Schrift, dass der Mensch Gott in seinem, des Menschen, Ebenbilde geschaffen, und nicht umgekehrt. Den Juden, die urheberrechtlichen Verfasser der heiligen Schrift, sahen darin kein Problem; ihr Verhltnis zum 'øéáåðå ùì òåìí' war seit jeher pragmatisch gewesen, auf Verhandelungsbasis von gib und nimm. Nur fr die Goyim war das 'Reich nicht von dieser Welt' und und deshalb waren sie auch nicht im Stande Gegenstze und Widersprche zu begreifen. Luther hat das alte Testament natrlich nicht aus der Quelle bersetzt, dazu konnte er zu wenig Hebrisch, sondern aus dem griechischen Text, der Septuaginta, und bentzte das Original nur zum Vergleich. Wer sich die Mhe macht, den deutschen und hebrischen Text zu vergleichen, wird viele Unstimmigkeiten entdecken, aber auch erfahren, was hier fr ein gewaltiges Werk geschaffen wurde. (Einen interressanten Beitrag zum Thema bersetzung bietet auch die Bibel.bersetzung von Buber-Rosenzweig, basiert auf die grammatischen Besonderheiten des Hebrischen, auf die deutsche Sprache bertragen).
Wir stiegen also den schmalen Pfad zur Wartburg hinan, ber die Zugbrcke und durch zahlreiche Hfe. berall Wappen und Rstungen und Waffen. Die Zelle Luther mit aufgeschlagener Bibel und dem riesigen Tintenfleck an der Wand, der der Sage nach jede Saison erneuert werden musste. Im Rittersaal ein riesiges Wandbild, der berhmte Sgerkrieg, mit Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach - was willst Du mehr, mein Nibellungenherz! Kein Wunder, dass die in Nrnberg gehngten Meistersinger sich nicht daran erinnern mochten, dass 100 Jahre frher hier am selben Platz der Traum einer positiveren menschlichen Gemeinschaft getrumt wurde. Und wer weiss - vielleicht wird noch weiter getumt; laut einer Zeitungsnotiz sollen die Besuche auf der Wartburg f.r die nchsten Jahre voll gebucht sein...
Noch zwei Sachen sind mir von Salzungen in Erinnerung geblieben - die eine davon nicht gerade angenehm. Eines Morgens war Mamma noch nicht fertig angezogen und schickte mich daher hinunter, auf der Terrasse, unter unserem Fenster, inzwischen am Frhstckstisch Platz zu nehmen. Einige Bekannte an Nebentischen fragten mich daher "und wo ist Mamma". Ohne viel zu berlegen antwortete ich laut und klar: "sie kommt gleich, sie zieht sich nur noch die seidenen Schlpfer an". Schallendes Gelchter brach auf der ganzen Terrasse aus. Ich fhlte mich usserst unbehaglich und rannte nach oben, um von meiner Mutter, weiss wie Kalk im Gesicht, mit ein paar saftigen Ohrfeigen empfangen zu werden. Sie hatte natrlich durch das Fenster alles gehrt. Ob wir nun darnach noch zum Frhstck heruntergingen oder nicht, ist mir nicht mehr erinnerlich.
Das Andere ist eher spasshaft. Das Jahr war 1924 und die amerikanische Mode begann auch den europischen Frauen die Frisuren zu diktieren, d.h. anstatt Hngezopf - Bubikopf, wie der damals zeitgemsse Schlager ging. Daher entschied auch Mamma, dass die Zeit reif zum Eingriff war; nach kurzer Sitzung beim Friseur gingen wir auf die Post: Mamma schickte ihren Zopf als 'Muster ohne Wert' nach Hause...
Dennoch, trotz Saline, Nasensplungen und Drachenschlucht wurde ich meine Bronchitis nicht los. Den selben Sommer war Meta in Begleitung von Gertrud mit Tante Rosa und Gert in Reichenhall. Sie kam von dort begeisterter zurrck, als ich von Salzungen. Aber zu einem war die Langeweile von Nutzen. Ich begann selbst zu lesen - ein erster Schritt zur Selbststn-digkeit.
In diesen Monaten ging auch die grosse Inflation ihrem Ende zu, aus einer Milliarde Mark wurde ber Nacht eine Mark. Es folgten fnf Jahre von Konjunktur und Aufschwung, die 'halcyon days' der Weimarer Republik, denen erst der Wallstreetkrach von 1929 ein jehes Ende bereitete.
Als wir grsser wurden, lernten wir auch den weiteren Verwandtenkreis kennen, und vor allen die Cousins und Cousinen. Pappa hatte zahlreiche Geschwister, darunter auch Halbbr-der- und Schwestern, aus der ersten Ehe des Stiefvaters Kuschinsky. Sein ltester Bruder Willy fiel im ersten Weltkrieg. Willy hinterliess zwei Shne und eine Tochter. Die Witwe, Jenny, heiratete ein zweites Mal, in einen Zweig der Familie Neustadt. Sie war eine Schwester von Ella Flatow (Elses Mutter, spter in Naharia). Das Ehepaar lebte in Graudenz in Ostpreussen. Die beiden Jungens, Martin und Kurt machten spter ihr Abitur in Berlin und gingen nach Sdamerike. Martin verstarb in den 70iger Jahren in Mnchen, Kurt scheint noch in Buenos Aires zu leben. Das Ehepaar Freitig, Eva, die lteste der Radzewski Kinder und der jngste Sohn kamen um.
Ein Onkel Pappas, dem Altersunterschied nach eher ein Vetter, lebte mit grosser Familie in Pillau, Opr. und konnte sich mit allen nach Jerusalem herber retten. Jngere Schwestern von Pappa waren Betty und Fanny. Betty verheiratete sich in den 20iger Jahren und lebte mit Mann und Tochter Helga in Falkenberg, nicht weit von uns. Sie kam nicht mehr lebend heraus. Fanny, wie ihre lteren Schwestern, schaffte es rechtzeitig nach Amerika. Desgleichen Selma Schelasnizky, in letzter Minute, mit ihren zwei j.ngeren Kindern. Horst, den ltesten, traf ich auf meinem Schiff auf dem Weg ins Land. Horst verstarb vor nicht langer Zeit in Bat-Jam. Sein jngerer Bruder Manfred hat sich jetzt hier niedergelassen.
Zwei jngere Brder Pappas waren Georg und Paul. Georg, sein ganzes Leben lang Junggeselle, hat jahrelang viel Geld verdient. 1933 brach seine Welt zusammen, er blieb ohne Arbeit und ohne Einkommen. Dazu war er Nierenkrank und lebte mit nur einer Lunge nach einer Verwundung im ersten Weltkrieg. Am Ende seiner Karriere fand er dann noch eine Lebensgefhrtin, eine rztin in seinem Alter. 1934 gingen sie ins Land, wo er kurz darauf verstarb. Paul, mit Frau Martha und Kindern lebten in Angermnde, in der Umgegend von Berlin. Auch sie kamen nicht mehr lebend heraus. Entferntere Verwandte waren der Familienkreis der Grossmutter Kuschinsky, Pappas Mutter, von denen ich die Familie Peysack, Berlin, spter Tel-Aviv, kennenlernte, damals geschworene Revisionisten.
Von der Familie von Mammas Seite, ber ihre Schwestern hinaus, kenne ich nicht viele. Der bereits erwhnte Carl Neustadt ging mit Familie 1934 nach Tel-Aviv und kehrte am Ende seiner Tage nach Frankfurt zurrck. Vor vielen Jahren besuchte einmal Tante Fanny Israel und lud zu einem Familientreffen in einem Tel-Aviver Cafe ein. Bisher hatte ich geglaubt, ich htte keine nheren Verwandten im Land, zumindest hatte ich nur mit wenigen Kontakt. Es versammelten sich da mehr als fnzig Menschen, mir alle bekannt. Fr Verwandtschaftspflege muss man Sinn haben und ich bin darin irgendwie ungeschickt. Wir lebten auch in verschiedenen Welten: unsere Zugehrigkeit zum Kibuz und spter Moschav schuf Barrieren zwischen uns und der 'Welt von gestern', und im Grunde hatte man sich nicht viel zu sagen. Das hat wenig mit materiellen Grnden zu tun. Es mag die Entfernung der Jahre sein - oder aber einfach ich selbst...