Benjamin Radchewski
1924-1926
Die Bronchitis wurde ich nicht los. Fieber folgte auf Fieber, und dies trotz aller guten Ratschlge von Verwandten und Bekannten. Eine Kundin brachte ein Einmachglass voll mit Kirschsaft. Ich hatte den angermten Kirschsaft auf einmal herunter zu trinken, andernfalls wrde der Effekt verloren gehen. Das sofortige Ergebnis: all in - all out! Das rztliche Konzilium verlangte drastischere Massnahmen, um den circulus viciosus der Selbstinfektion zu durchbrechen. Die Anregung war - ein Jahr an der Nordsee, in Wyk auf Fhr. Wyk auf Fhr gehrte zu der Inselgruppe der schleswig-holsteinschen Kste, nrdlich von Hamburg. Wyk war bekannt als Kurort fr Erkrankungen der Atemwege und zum grsten Teil ein Badeort fr Kinder. Ein Aufenthalt von einem Jahr hiess passende Unterkunft finden. Aber Wyk war darauf eingerichtet: es bot sich eine Auswahl von Kinderheimen an, Kinderheime aller Grssen und Frbungen. Es gab das Heime und Pensionen fr Kinder bestimmter Alterstufen, im Allgemeinen nicht unter Kindergartenalter. Heime fr Mittelschler mit Nachhilfestunden, Heime wo 'Juden unerwnscht' und welche mit gemischten Gsten; sogar ein rein jdisches Kinderheim existierte, unter der Direktion des Hamburger jd. Franbundes (der damaligen Version der WIZO). Es galt also zu whlen und entsprechende Korrespondenzen waren unterwegs.
Ich glaube nicht, dass wir im Sommer 1925 irgandwo hin fuhren. Man konnte aber auch in Wriezen den Sommer verbringen. Damals grnten noch die Stdte Europas, in Berlin waren nicht nur die 'Linden' mit Bumen bepflanzt. Wriezen besass viele Parkanlagen, zu denen auch der Friedhof gehrte, und Tannenwlder ausserhalb der Stadt. In den Sommermonaten waren die Biergrten offen, einige sogar mit Musik und Tanz. Mein Vater veranstaltete sogar einmal eine ganze Modeschau mit Kabaret im Biergarten vom 'Schtzenhaus'. Bier war zwar der meist gesuchte Konsumsartikel, aber auch Kaffee und Obst- und Hefekuchen, quadratmeterweise, waren begehrt.
Die Freienwalderstrasse, die breite Allee, die aus der Stadt herausfhrte - in Richtung Freienwalde - war eine mit Bumen bepflanzte Strasse, die an der katholischen Kirche vorbei fhrte. Das Besondere an der Kirche war, dass sie nie verschlossen war. Manchmal gingen wir hinein und waren tief beeindruckt vom dem Echo unserer Schritte. Ringsum waren Heiligenbilder aufgehngt, deren Inhalt uns nicht viel sagte. Kunst gab es in dieser Kirche nicht - auch hierin passte der Begriff GN, aber davon verstanden wir noch nichts. Einen Kilometer weiter gelangte man zum Schwanenteich. Frher diente der Teich als Staubecken, um der anliegenden Mehlmhle das Wasser zu liefern. Jetzt war die Mhle lngst mit Strom versorgt und der Teich war ausschliesslich Domne der darin herumschwimmenden Karpfen. Ausserdem hielt sich der Mller dort ein Schwanenpaar, das majestetisch den Teich durch- querte. Ein paar Minuten spter gelangte man nach Rondeel, ein Kaffee- und Biergarten. Man konnte hier den Ausflug mit Kaffee und Kuchen beenden. Verlangte es einen nach grsseren Entfernungen, so gelangte man nach einer Wanderung von noch dreiviertel Stunden nach Itritz, Bauernhof und Kneipe, mit grossem Biergarten, versteckt im Wald. ber dem Eingang ein grosses Schild: "Von Franzosen bleibt verschonet wer in Itritz wohnet". Warum? Napoleons Armee whrend der Besetzung Preussens scherte sich nicht viel um diesen Platz, und der damalige Besitzer des Hofes hielt das seiner eigenen Schlauheit zugute.
In Itritz fanden Feste aller Art statt, grssenteils ffentlichen Charakters. Die Schulen pflegten hier ihre sommerlichen Schulfeste zu begehen, vornehmlich das Fest der Sonnenwendfeier, am 21. Juni - der lngste Tag und die krzeste Nacht. Immer eine grosse Sache, unter Beteiligung aller Familienangehrigen der Schler. Im Mittelpunkt der Festivitt standen Vorfhrungen und meistens ein Theaterstck: ich entsinne mich noch an Hauptmanns 'Versunkene Glocke'. Und zum Schluss das riesige Sonnenwendfeuer unter Begleitung des viersteimmigen Chors "Flamme empor!" Bei solchen Gelegenheiten schlug die Stimmung leicht in nationale um - Freudenfeuer waren wohl seit eh und jeh deutscher Brauch, in der Neuzeit manchmal ein Ausdruck von anti-etablishment, und im Jahre 1848 "Flamme empor!" war der Auruf zur brgerlichen Revolution, aber auch die Keime zum extremen Nationalismusder Zukunft lagen hier bereits verborgen. Ein anderes Lied: "Freiheit, die ich meine" mit dem etwas pessimistischen Hinweis, dass die wahre Freiheit nur am Sternenfeld zu finden sei, schien auf sptere Entwickelungen hinweisen zu wollen. Die teilnehmende Menge sehnte sich weniger nach Freiheit als nach wirtschaftlicher Sicherheit; sie fhlte hier keinerlei Widerspruch, nur nationale Erhebung. Unsere Eltern wussten darauf nur ein Achelzucken - GN. Konnte sich jemand vorstellen, was daraus entstehen wurde?
Eines aber war allen Biergrten gemeinsem: Mcken in den Abenstunden. Die Raucher waren mehr oder weniger gefeit, die Nichtraucher, im Allgemeinen die Damen, behalfen sich mit Eau de Cologne.
Darber hinaus waren die Mglichkeiten natrlich nicht erschpft. Man konnte einen Sonntag Nachmittag im Kurhaus in Bad Freienwalde verbringen, unter den Klngen der Kurkapelle. Oder nach Falkenberg eine Staion weiterfahren und auf der 'Karlsburg' Kaffee trinken. Fernere Ziele fr sonntgliche Ausflge waren die Seen in der Umgebung Berlins. Zelte und Boote fr die Jugend und Yachten fr die Millionre. Die Besucher der Restaurants und Cafes am Rande der Seen waren die Einwohner West-Berlins, und unter ihnen vor allem unsere Volksgenossen. Die hatte kaum einen Blick fr die Landschaft der mrkischen Seen - fur sie gab es nur eins: Karten spielen, und durch berlautes Sprechen hervorragen. Merkwrdig: Berlin hatte an die vier Millionen Einwohner, unter ihen an die 250000 Juden, 6%. Wie brachten die es wohl fertig berall, und alle auf einmal, aufzufallen? Ich glaube nicht, dass das mit Genetik zu tun hat, eher mit Soziologie...
1925 waren wir erst 9 Jahre alt und alle PLne lagen noch vor uns. Wir beide, natrlich, sollten zusamen mit Gertrud an die Nordsee, nach Wyk auf Fhr. Eine Korrespondenz warr im Gange mit der Besitzerin eines jdischen Kinderheims, einer Frau Grete Weinberg, die koschere Kche anbot (unter eigener Aufsicht) und zugleich eine angenehme Atmosphre. Sie war auch bereit, uns beide unter Begleitung von Gertrud aufzunehmen. Wir begannen also mit den Vorbereitungen. Alles, Kleidung wie Wschestcke, musste gezeichnet sein. Sass also, wer nur irgendwie konnte, (auch einige Mdels vom Personal) und half die (fertig bestellten) Namensetiketten einnhen. Natrlich durfte man Bettwsche, Federbetten und Decken nicht vergessen, Kleidung fr ein Jahr, den Jahreszeiten entsprechend und dem nrdlichen Klima angepasst. Nicht, dass wir etwa mit der Arktik zu rechnen htten - die ganze Nordseekste (wie Westeuropa berhaupt) stehen unter dem Einfluss des Golfstroms und Schnee und Eis sind meistens von kurzer Dauer. Kalt ist es nicht, aber Strme gibt es immer. Langsam wurde es uns klar, dass das geplante Gepck gigantische Ausmasse annehmen wurde. Die einzige Mglichkeit war daher, nur das saisonbedingt Ntige mitzunehmen und alles andere nach Bedarf nachzusenden. Und das, was in die Koffer ging, war auch nicht gerade wenig...
Anfang Oktober fuhren wir los. An die Nordeseeinseln gelangt man via Hamburg - Husum, damals an die 9 - 10 Stunden Fahrt im D-Zug. Da die Reisesaison aber schon vorber war, gab es keine durchgehenden Zge und wir mussten in Hamburg bernachten. Ein neues Unglck, die Thermosflasche zerbrach unterwegs! Ohne Thermosflasche war an eine Weiterreise nicht zu denken. Es gibt eben Dinge, die man nicht tut. Wie z. B. ohne Thermos und belegte Brote reisen. Impossible!. Der im Zug mitgefhrte Speisewagen knnte da einige Probleme lsen - aber nein, you wouldn't dare. Warum also nicht alle Hamburger Geschfte abklappern, um fr die verbliebene Hlle die passende Stahlglasflasche zu finden? Verlorenen Liebesmh' - keine Industrie, die etwas auf sich hlt, sorgt fr entsprechende Ersatzteile - wo bliebe sonst der Umsatz? Aber in einem Cafe an der Binnenalster konnte man dann etwas verschnaufen und unter tausenden von Lichtern Boote und Yachten vorberziehen sehen. Weiterreise am nchsten Morgen, im gewhnlichen Personenzug, ausserhalb der Saison gab es keine andere Verbindung. Am Nachmittag kamen wir nach Dagebll, ein kleiner Fischerhafen, die Endstation. Dort erwartete uns ein kleiner Dampfer. Kaum waren wir an Bord, fuhr er los, in Richtung Insel Fhr, Hafen und Stdtchen Wyk.
Die Inselkette an der Nordseekste, die ganze Kste, gehren zu Nordfriesland. Die Ostfriesischen Inseln, sdlich davon, gehren grssten Teils schon zu Holland. Das dort gesprochene Friesisch ist mehr oder weniger ein hollndischer Dialekt. Das in Hamburg und in Schleswigholstein gesprochene Plattdeutsch wird an der ganzen deutschen Kste gesprochen.
Die Nordsee ist ein Gezeitenmeer - Flut und Ebbe lsen einander ab. Flut und Ebbe hngen von den Mondphasen ab, Fahrzeiten der grsseren Schiffe und Fangzeiten der Fischerboote widerum von den Gezeiten. Die Verkehrsdampfer hbn ihre ausgebaggerte Fahrrinne, die ihnen die Wartezeit erheblich verkrzt. Geologisch gesehen ist der Meeresboden in stndiger Bewegung. Im elften und zwlften Jahrhundert brachen Naturkatastrophen ber die Ksten Frieslands und Hollands herein. Weite, tieferliegende Strecken wurden berflutet und vom Festlande gerissen. So entstanden die Inselketten (und auch die Zuiderzee in Holland). Das Meer zwischen den Inseln aber blieb flach - das 'Wattenmeer' (von "waten"). Da die Meeres- kste teilweise unter dem Meeresspiegel liegt ("Die Niederlande'), entwickelten die Einwohner schon zu Urzeiten ein System von Deichen zu ihrem Schutz. Bis auf heute unterstehen die diese Deiche einer Behrde, die berechtigt ist, zur Zeit von Gefahr Brger zu Notstadsarbeiten heranzuziehen.
Flut und Ebbe whren je sechs Stunden. Whrend der Flut steigt der Meerwasserspiegel zu seiner maximalen Hhe an, whrend der Ebbe weicht das Meer kilometerweit zurrck. Jeder Bootsmann und jeder Fischer hat seinen Gezeitenkalender in der Tasche. Der Meeresboden trocknet in manchen Gegenden viele Kilometer weit ab. Zwischen der Insel Fhr und der Nachbarinsel Amrum kann man zu Ebbzeiten bequem von einer Insel zur anderen hinber laufen, ca. 6 - 8 Km. Der Pfad ist durch Pfhle abgesteckt. Der Meeresboden ist natrlich nicht gleichmssig; es entstehen Risse (Priehle) und Sandbnke. Eine Unzahl von Lebewesen und Pflanzen bevlkern den Meeresboden. Krebse, Muscheln, Seesterne, Algen aller Art. Es sei aber dem Wattenwanderer geraten, seinen Gezeitenkalender in der Tasche zu halten. Besser ist es, schon vor Rckkehr der Flut den Heimweg angetreten zu haben. Grben und Tmpel fllen sich zu Beginn der Flut sofort auf und erschweren die Rckkehr auch ber den abgesteckten Pfad. Nebel erschweren manchmal die Sicht - eine Todesfalle fr den ahnungslosen Wanderer und ein Angsttraum derer, die sich der Gefahren bewusst sind. Daher werden Ausflge dieser Art ausschliesslich unter Leitung erfahrener Fhrer unternommen. Dennoch gibt es jedes Jahr ein paar Schlaukpfe, die es unter ihrer Wrde halten, sich nicht allein mit den Krften der Natur zu messen, genau wie die 'mutigen' Schwimmer am Strand, die auf die Warnungen der Rettungsmanschaften pfeifen...
Bei Vollmond gibt es manchesmal 'Springfluten' mit erhhtem Wasserspiegel, besonders, wenn nord- oder sdwestliche Winde Wassermassen aus dem Antlantik oder dem Kanal in die Nordsee drcken. Das Wasser sinkt dann auch whrend der Ebbe nicht sehr ab. Die Wellen schlagen dann ber die Strandprommenade und der Badebetrieb ist bis auf Weiteres gesperrt.
Viele Mrchen verganger Zeiten erzhlen von Sturmfluten. ber die grosse Stadt Rungholt, die vor 500 Jahren versank, mit Mann und Maus, erzhlen viele Geschichten. Und wenn man heute, bei ruhiger See, ber die Stelle, wo die Stadt einst gestanden, hinwegfhrt, hrt man in den Tiefen die Glocken luten (so die Ballade von Detlef v. Lilienkron). Viele Sagen und Anekdoten haben wir dort im Laufe der Jahre aufgeschnappt.
Die nordfriesische Inselkette besteht aus drei gsseren - die Inseln Fhr, Amrum und Sylt, und einer Reihe von Insel-Splittern, die man die Halligen nennt. Eine Hallig kann die Grsse eines oder mehrerer Gehfte haben. Die Gehfte sind auf einen aufgeworfenen Hgel, einer Warft, errichtet, die sie zur Zeit von Sturmfluten im Frhjahr und im Herbst ber Wasser hlt. Die Bewohner der Halligen sind dann von jeder Zivilisation abgeschniten, umgeben von einer Wasserwste und es bleibt ihnen nichts brig, als Wetter- und Mondwechel abzuwarten. Ihr Auskommen ist krglich; ein paar Stck Vieh, die auf den wenigen Quadratmetern ringsum weiden knnen, was wre noch dort anzufangen? Was mag heute aus ihnen geworden sein? Ich glaube irgendwo gelesen zu haben, dass die Halligen ohne gesichertes Auskommen grsstenteils gerumt worden seien. Es ist auch kaum anzunehmen, dass im Deutschland des Wirtschaftswunders noch jemand sein Leben im tobenden Meer zu fristen suche. Aber wer weis, vielleicht gibt es hier und da einen Millionr, der eine solche Hallig privat zu erwerben sucht und ein Leben von Einsamkeit - einen Mangel (oder Vorteil?), den er bei den Fleisch- tpfen der Consumer Society nicht zu finden vermag...
Laut Berichten aus jngster Zeit scheint der Meeresspiegel der Nordsee wieder im Ansteigen begriffen. Weitere Strecken werden zuweilen berflutet und ganze Dnenketten einiger Inseln verschwinden unter Wasseroberflche. So hat die Insel Sylt letztlich an die 400 m Strand eingebsst. Das Gelingen des Versuchs, viele Millionen Kubikmeter Sand in die bedrohten Gebiete einzuschleusen, bleibt vorerst abzuwarten (ZDF Winter 1988/89).
Soweit Wyk und das Wattenmeer.
Wir legten in Wyk an, ein winziger Hafen. Ich weiss nicht mehr,ob uns jemand dort abholte, oder ob wir selbst mit irgendeiner Droschke an unseren Bestimmungsort gelangten. Das Kinderheim lag nicht innerhalb des Stdtchen Wyk, sondern in dem ausserhalb gelegenen Sdstrand, das 'development cent' des damaligen Wyk. Dort waren die meisten Kinderheime und Pensionen, sowie ein grsseres Hotel. Alle waren als Villen gebaut, mit Grtchen ringsum und nicht zu dicht eines am anderen. Es war schom am spten Nachmittag, als wir am Kinderheim Weinberg vorfuhren. Das Haus schien nicht besonders aufgerumt und die Rume sehr klein. Wie ich aus dem Wortwechsel zwischen Frau Weinberg und meiner Mutter entnahm, war erstere nicht bermssig begeistert, dass unsere Mutter darauf bestand, Gertrud als unsere stndige Pflegerin bei uns zu lassen. 'Derartiges ist nicht blich bei uns, und erschwert berdies den Kindern das Einleben'. Wohl ein Dutzend Kinder waren zur Zeit im Heim, fr meinen Geschmack schon viel zu viel, und eine Menge Lrm. Um sieben Uhr gab es Abendbrot. Erster Schock: Ssse Mehlsuppe und Schwarzbrot und dazu Weisskse. Die Mehlsuppe kriegten wir schon garanicht runter - und an das norddeutsche Schwarzbrot waren wir einfach nicht gewhnt. Aber auch andere Kinder wollten ihre Suppe nicht herunter lffeln, und es gab grosses Geheul, trotz des Geschrei der Kinderpflegerinnen, die in Gegenwart von Gertrud nicht recht wagten, ihren Willen mit Brachialgewalt durchzusetzen. Der zweite Schock war das Schlafengehen: Wir befanden uns immerhin an der Nordsee, im Monat Oktober. Die Fenster in den Schlafzimmern standen weit offen, Betten und Bezge waren feucht. Mamma verlangte sofort Bettwrmer in jedes Bett. Frau Weinberg erschrak zutiefst: ein derartiges Vorhaben widersprach jeglichem Erziehungs- und Gesundheitsprinzip. Eine Abhrtung gegen Erkltungen sei nur zu erreichen, wenn man sich jeglicher Verwhnung enthielt. Es war von vernherein klar, dass Mamma von Frau Weinbergs Ansichten nicht zu berzeugen war und hier nicht nachgeben wurde. Ebenso klar war, dass wir nicht bei Frau Weinberg bleiben wrden. Am nchsten Morgen (berflssig zu verzeichnen, dass jemand von uns nachts ein Auge zutat), luden wir unser Gepck auf eine Droschke, zu meiner unbeschreiblichen Erleichterung, und suchtren uns eine Pension als vorlfige Unterkunft. Mamma und Gertrud machten sich auf, ein passendes Kinderheim fr uns zu finden.
Das war nicht ganz so einfach. Nicht, dass man nicht daran interessiert gewesen wre, zwei Kinder aufzunehmen, und noch dazu fr ein ganzes Jahr. Aber viele Heime schreckten vor dem Gedanken an eine private Pflegerin , die ihnen auf die Hnde und hinter die Kulissen gucken knnte, zurrck. Ein Kinderheim, wie jedes Hotel oder Pension, ist vor allem ein Geschft, dessen Geheimnis des Gelingens oder nicht Gelingens in seiner Fhrung liegt: fr Maximum Preis ein Miniimum an Gegenleistung. Hier bertreibe ich natrlich; aber zwischen Kche und Service ist seit je und eh die Auseinandersetzung zwischen Wirt und Gast begriffen. Doch hier stand mehr auf dem Spiel: Kinder in Internatsbedingungen zu halten erforderten eine gewissen Disziplin und Hausordnung. Nach heutigen Begriffen mgen die damaligen Erziehungsmethoden anzuzweifeln sein. Die Besitzerin der Kinderheime (im Allgemeinen Damen vorgeschrittneren Alters - wenn nicht ausgesprochen alte Jungfern) waren selten Erzieherinnen, oder hatten einen Dunst von Erziehung, ber das hinaus, was sie von ihrer Frau Mama gelernt hatten. Die Pflegerinnen, 'Kindertanten' genannt, waren junge Dinger, die in der Saison ihren Lebensunterhalt mit der Arbeit bei Kindern verdienten. Hier und dort war ein Mdel, dass einige Monate Kindergrtnerinnen-Seminar hinter sich, oder mit Jugendlichen gearbeitet hatte. Der Erfolg ihrer Arbeit mit den Kindern hing von ihrer Persnlichkeit ab. Sie lernten durch Erfahrung, und Mangel an erworbenen Kenntnissen ersetzten sie durch die seit Generationen bewhrten Abschreckungsmethoden. Die Besitzerinnen, soweit sie berhaupt diese Mngel bemerkten, gingen darber hinweg. Sie wollten sich so wenig wie mglich auf diesem Gebiet einmischen und keinesfalls belstigt werden - und sowenig wie mglich Lrm um sich haben. Daher wurde bei der Rckkehr vom Strand am Eingang ins Heim absolute Stille proklamiert, und das galt auch fr die Mahlzeiten. Die Berufskrankheiten der Heimbesitzerinnen waren gewhnlich Magengeschwre und Migrne...
Demgemss ist es unschwer zu verstehen, dass keiner begeistert war, sich jemand auf den Pelz zu setzen, der stndig jede Kleinigkeit, die geschah, oder auch nicht geschah, den Eltern der Pfleglinge nach Hause berichtete. Aber die Aussicht, zwei Kinder, oder auch drei (Gert aus Freienwalde sollte sich spter anschliessen) fr ein ganzes Jahr aufzunehmen, war dazu angetan, manche Grundstze beiseite zu schieben.
Ich nehme an, dass Mamma und Gertrud alle in Frage kommenden Kinderheime abgegrast haben. Zwei davon lehnten die Aufnahme von Juden ab, das jdische Heim des Hamburger Frauenbundes hielt den Kriterien nicht stand und schliesslich, oder nicht ganz schliesslich, sondern nach Umfrage, wurden wir an ein Heim verwiesen, dessen Besitzerin, tatschlich eine alte Jungfer und sich z.Zt. in Italien aufhaltend zwecks Erholung von der nervenaufreibenden vergangenen Saison. Die Verhandlung, die ihre Stellvertreterin und Haushlterin fhrte, zog sich hin. Das Haus machte auf Mamma und Gertrud einen sehr guten Eindruck und man kam zu einer Einigung. Am nchsten Tag zogen wir ein.
Die Besitzerin des Kinderheims, ein Frl. Gertrud Hubo, entstammte einer jdischen Familie am Platz, die aber seit langem getauft war (und wer weis, wie ihr ursprnglicher Name war). Ein Bruder von ihr fhrte ein kleines Konfesktionsgeschft in Wyk. Diese Einzelheiten erfhren wir allerdings nicht von Frl. Hubo selbst, die sich absolut als Christin und Deutsche fhlte.
Das Kinderheim nannte sich 'Hilligenlei', altfriesisch fr 'Heiliges Land' (?). In Wyk hatten beinahe alle Huser einen Namen, eines sogar ein ganzes Bibelzitat. Wie die meisten Heime auch, war 'Hilligenlei' nicht als Kinderheim erbaut worden. Es war dies ein zweistckiges Landhaus mit Mansarden. Die maximale Anzahl von Kindern, die 'Hilligenlei' whrend der Hochsaison aufnehmen konnte, war nicht mehr als zwanzig, im Alter von vier bis dreizehn. Im Jahresdurchschnitt befanden sich dort nicht mehr als zehn Kinder, in den Wintermonaten na- trlich viel weniger. Die Schlafzimmer der Kinder befanden sich im zweiten Stock, ebenso Badezimmer und Toiletten. Im Erdgeschoss war das Esszimmer, nicht besonders gerumig, und eine grosse Terasse, die durch Glassfenster zu schliessen war, der Aufenthaltsraum an Regentagen. Zwei Zimmer dienten als Privatgemcher der Hausherrin. Die Kche befand sich im Keller; ein einfacher Aufzug verband sie mit dem Esszimmer. Die Angestellten wohnten in den Dachkammern. Es war dies also ein gewhnliches Wohnhaus deutschen Stils, auf jeden Fall nicht als Kinderheim gebaut. Ich glaube nicht, dass es irgendwo in Wyk ein zu diesem Zweck erbautes Kinderheim gab; das Haus musste nur gross genug sein, um in der Saison an die 15-20 Kinder aufnehmen zu knnen. An grsserer Anzahl war niemand interessiert.
'Hilligenlei' war ein geordnetes Haus, einfach eingerichtet und glnzte vor Sauberkeit. Die Hausdame war ein Frl. Detlef, die verantwortliche Pflegerin ein junges Mdchen im Alter von 20 Jahren, Edith Khne, die einige Schulung im Umgang mit Kindern hinter sich hatte. Sie war usserst lustig und ausgelassen, und befreundete sich sofort mit Gertrud, ein Band, dass, so glaube ich, bis an ihr Lebensende hielt. Diese mehr als stabile Atmosphre wuchs sich letzten Endes auch zum Vorteil fr Frl. Hubo aus: wie die Dinge lagen, sorgte Gertrud nicht nur fr uns, sondern nahm auch an der Aufsicht ber die ganze Gruppe teil - eine kostenlose zu- stzliche Arbeitskraft. Das heisst aber nicht, dass, besonders in der ersten Zeit, alles so reibungslos mit Frl. Hubo vor sich ging. Eines stand aber fest: Mamma htte uns nie allein in ein Kinderheim gegeben, und, wie sich im Laufe der Zeit herausstellte, nicht ganz mit Unrecht. Dennoch sei zugegeben, dass es nirgendwo in einem Kinderheim in Wyk Kinder in Begleitung einer eigenen Pflegerin gab; das Abkommen in 'Hilligenlei' war aussergewhnlich.
Trotz des schnen Hauses lebten wir uns nicht so leicht ein, weder in die Umgebung, noch in den Tageslauf. Bei unserer Ankunft waren in 'Hilligenlei' noch an die fnf oder sechs Kinder, einige aus der Nhe, einige von weither. Ethnologisch gesehen war die Kinderschar in 'Hilligenlei' manchmal zur Hlfte, manchmal zu zwei drittel jdisch. Das Personal stammte aus Schleswig-Holstein, Edit war Hamburgerin. Alle sprachen einen anderen Akzent und waren in ihrer Mentalitt fremd. Aber alle waren von Natur aus frhlich und die Kinder hatten keine Schwierigkeiten Kontakt zu ihnen zu finden. Sich an das Essen zu gewhnen war schon schwerer. Das Brot habe ich bereits erwhnt. Das in Brandenburg bliche Roggenbrot kannte man in Schleswig-Holstein nicht. Dort gab zu den Mahlzeiten zweierlei Sorten Brot, schwarzes und weisses. Meistens war eine Schnitte aus zwei Scheiben zusammengesetzt, eine weisse und eine schwarze. Gerucherte Krabben galten als Delikatesse: bis auf den heutigen Tag bin ich nicht fhig 'seafood' jeglicher Art hinunter zu wrgen. Aber zum ersten mal lernten wir hier, dass man Tomaten aufs Brot schneiden kann.
Schlimm war es mit den Mens. Jede Gegend und ihre Spezialitten. Die nrdliche Kche hat ihre besonderen Seltsamkeiten. Obstsuppen werden immer freundlich aufgenommen, wenn sie aus den Frchten der Jahreszeit hergestellt und kalt serviert werden. Schleswig-Holstein reicht sie warm, aus Frchten des Holunderstrauchs. Die 'Fliedersuppe', wie man sie nannte, schmeckte nach 'Formamint`, Tabletten, die man zu jener Zeit gegen Halsweh schluckte, oder eine bestimmte Sorte von Mundwasser. Aber nationale Gerichte sind geheiligt; sie zu ver-schmhen kommt der Gotteslsterung gleich.
Dis gilt auch fr den Kratoffelauflauf mit Speck, den mir keine Macht der Welt hinunterzwingen konnte; ebenso Hasen. Hasenjagd im Winter war der Zeitvertreib einiger Bekannter der Hausherrin und ein gebratener Hase galt als Delikatesse. Aber an Wildgeschmack muss man gewhnt sein: ein Hase wird nicht auf der Stelle gekocht. Seine Haut wird abgezogen und er muss einige Wochen im Keller hngen, sonst wird er nicht weich (wir haben dies mit alten Truthhnen gemacht, aber im Friezer). Doch der penetrante Wildgeschmack ist durch kein Splen und Braten wegzubringen, auch gespickt bleibt er 'au got'. Man muss schon als Goj geboren sein, wie z.B. das Frl. Hubo, um sich daran zu delektiren. Ich nicht. brigens steht nirgends gewchrieben, dass Wild riechen muss. Jahre spter ass ich Rehbraten, ohne jeglichen Beigeschmack. - Teltower Rbchen war eine andere `Delikatesse', die man uns einreden wollte. Jahre darnach, wenn ich meinen Komposthaufen umschaufelte, erinnerte ich mich daran... Chaqu'un son got: wie z.B. das sonst nur in Osteuropa bliche Zuckern von Gemse, u.a. Rosenkohl. Nachahmen lsst sich diese Speisekarte nicht, zumindest nicht in einem jdischen Haushalt.
Ich glaube nicht, dass man am Essen sparte; das htte im Widerspruch zum Grundsatz Nummer Eins aller Kinderheime gestanden: die Gewichtszunahme der anvertrauten Zglinge. Die Kinderheime hatten ihren Ehrgeiz, den Eltern zu beweisen, dass die grosse Ausgabe, mit der der Aufenthalt der Kinder im Heim verbunden war, sich doch irgendwie rechtfertigte. Na- trlich machte im Grossen und Ganzen der Ferienaufenthalt im Kinderheim den Kinder viel Spass, wenn auch die ersten ein- zwei Tage die Kleineren einige Trnchen vor Heimweh weinten - macht nichts, sie heulten nicht weniger, wenn es hiess die Sachen zu packen und nach Hause zu fahren. Das gengte aber nicht den Kinderheim-Besitzerinnen. Sie wollten etwas Substantives als Beweis der Qualitt der verabreichten Pflege. Und das war eben die Gewichtszunehme. Es htte sich dies durch Verlockung erreichen lassen, das heisst, die schlechen Esser (denn um die drehte sich letzten Endes alles) durch Appetit anregendes Essen zu bewegen. Dem widersprachen aber die Prinzipien der Erziehung. Ein Kind hat alles zu essen und nicht whlerisch zu sein. Ein Kind, das sich zu essen weigert ist schlecht erzogen und muss bestraft werden. Diese Einstellung lieferte Szenen dramatischster Form, und dies whrend der Mahlzeiten. Viele Kinder, besonders die kleineren, sassen heulend vor ihren Tellern, unfhig die stinkenden Hasen oder die Kompostrbchen herunter zu wrgen. Es gab Geschrei und Ohrfeigen und die ganze mhsam hergestellte Tischordnung zerbrach. Die Mahlzeiten wurden zu Terror und Torturen und ich bekam vor jeder Mahlzeit Angstzustnde. Zum Schluss kam es soweit, das Gert und ich uns bergaben und mitten auf den Tisch erbrachen. Der darauf folgende Vulkanausbruch war furchtbar. Frl. Hubo bekam einen hysterischen Anfall und htte uns am liebsten an Ort und Stelle umgebracht, oder und auf vierzehn Tage zu Wasser und Brot verurteilt. Sie empfand unser Benehmen als persnliche Beleidigung, schlechte Erziehung und Verweichlichung. Ohne Gertrud, der Himmel weiss, was sie mit uns angestellt htte. Jetzt aber blieb ihr nichts brig, als sich klein zu machen. Es kam zu einem usserst scharfen Wortwechsel zwischen ihr und Gertrud: Gertrud beschuldigte Frl. Hubo gerade hinaus als die alleinige Verantwortliche an dem ganzen Vorfall, unter kaum ver- hllter Drohung. Frl. Hubo verliess den Raum und schlug die Tr hinter sich zu. Sie verschwand fr drei Tage in ihrer Kemenate mit einem schweren Anfall von Ulkus und ldiertem Ego und bestellte ihren Arzt. Zum Schluss blieb ihr nichts brig, als klein bei zu geben, d.h. auf Gewichtszunahmen zugunsten laufender Einnahmen zu verzichten.
Das Schnste an der ganzen Geschichte war, dass ein grosser Teil der Eltern berhaupt nicht an einer Gewichtszunahme ihrer Sprsslinge interessiert war. Die guten Esser bedurften sowieso keinerlei besonderen Anreizes. Die obligate Mehlsuppe frh und Abend (Jahre spter lernten wir sie im Kibuz als 'Daissa` kennen) tat dazu das ihrige. Und den schlechten Essern half der ganze Aufwand zu keinem zustzlichen Gramm. Liess man sie aber in Ruhe, so passten sie sich nach kurzer Zeit dem allgemeinen Rahmen an. Gewiss gab es auch Eltern, die es gern gesehen htten, dass ihr Kind 'essen lernte'. Gewhnte sich das Kind von selbst ohne Schwierigkeiten ein, so glckte das auch mal ab und zu; unter Druck nie. Mehr noch: die schlechten Esser fielen in ihre Gewohnheiten zurrck, sobald sie nach Hause kamen. Und die Moral: auf diesem Gebiet lsst sich durch usseren Druck nichts erreichen. Frher oder spter reguliert sich die Sache von selbst. Ich persnlich begann im Alter von 16 Jahren zu essen...
Als wir in 'Hilligenlei' einzogen war es schon Mitte Oktober, in jenen Breiten beinahe Winter. Natrlich war die Bade- und Strandsaison lngst vorbei, trozdem verbrachten wir, solange es hell war, die Stunden grstenteils im Freien, manchesmal etwas ber unsere Krfte, da Frl. Hubo ihre Zglinge lieber draussen als innerghalb ihrer vier Wnde lrmen hrte. Auch hier gab es bald Grund zu einem Zusammenstoss: Gertrud war nicht bereit, die Spaziergnge in Wind und Klte der Nordseekste ber eine bestimmte Zeit auszudehnen, nur weil Frl. Hubo zu Hause Ruhe haben wollte. Ein besonders scharfer Brief 'betreffs' von seiten meiner Mutter fgte einen weiteren Migrnetag der Via Dolorosa Frl. Hubos hinzu. Die obligaten Spazier- gnge wurden bei regnerischem Wetter durch die sogenannte 'Liegekur' ergnzt, d.h. einige Stunden absoluter Ruhe, eingehllt in Decken auf Liegesthlen auf der Terrasse. Eine Schar Kinder an die zwei Stunden so in Ruhe zu halten - Mission impossible! Es gelang Gertrud, die, ausserhalb des regulren Personals stehend, die Zeit aufbrachte, vorzulesen. Dennoch war fr viele Kinder das Stilliegen auf einem Liegestuhl eine Qual.
Im Allgemeinen stand man um 8 Uhr Frh auf. Anweisungen betreff der Garderobe wurden entsprechend dem Wetter gegeben. Nach dem blichen Rummel im Badezimmer beim Zhneputzen, versammelte man sich unten zum Frhstck. Man sass rings um einen grossen runden Tisch. An Wochentagen gab es Brot, schwarzes und weisses, mit Marmelade oder Kunsthonig. An Sonn- und Feiertagen 'Kringel', ein mit Honig gefllter Hefe- oder Bltterteig. Nach dem Essen, Ansturm auf die Garderobe im Korridor nach Mnteln und Mtzen. Und dann draussen angetreten in Reihen zu zweien oder zu dreien - im Gleichschritt Marsch, mit Gesang ins Wldchen, in den 'Grnstreifen' oder den 'Lembke-Hain'. Erlaubte es das Wetter, marschierte man weiter, den Strand entlang, oder in die innere Insel. Wir waren natrlich nicht das einzige Kinderheim unterwegs. An Vormittagen, zu Zeiten an denen man nicht am Strand sein konnte, marschierten alle draussen, in Reihen ausgerichtet. Es gab Heime, die hatten Einheitskleidung und man konnte sie schon von weit her erkennen. Jede Gruppe suchte sich einem Platz in einem der Wldchen und verbrachte die Zeit mit Spielen, wenn alle vom Marschieren ermdet waren. Auch ohne Einheitskleidung unterschieden sich die Kinderheime in der usseren Erschreinung ihrer Insassen, in der altersmssigen Zusammensetzung - und der sozialen Zugehrigkeit der Eltern. Gemeinsam aber war allen der Gesang. Die Volks- und Wanderlieder waren damals noch unberhrt von politischen Affilationen, deren sie nach 1930 zuteil wurden, als die Rechte, aber auch die Linke, harmlose Volkslieder aus alter Zeit als politische Symbole whlten. Noch konnte man sie ohne Nebengedanken singen, und nicht nur in den Kinderheimen und Schulen, sondern auch in den Jugendbewegungen. Es sind die Volks- und Wanderlieder dieser Jahre (in Text und Musik aus dem 19ten Jahrhundert stammend), von den Jehuda Sharet, Chawer Kibuz Jagur, viele ins Habrische bertragen hat. Noch als ich ins Land kam, konnte man viele dieser altbekannten Lieder in ihrer nen Fassung hren.
Unsere tglichen Spaziergnge fhrten uns auch in das Stdtchen Wyk, eine Kleinstadt von einigen Tausend Einwohnern, die sich grsstenteils von Touristik ernhrte. Ldchen fr Lebensmittel und Kleidung gengten den Bedrfnissen der Ortseinwohner. Eine grssere Anzahl von Geschaften diente den Badegsten. Ein grosses Foto-Geschft, Lden fr Sport- und Badeartikel, Juweliere mit friesisischem Filigranschmuck - eine Heimindustrie. Die Stadtverwaltung war zugleich Kurverwaltung; ein Postamt mit dem einzigen ffentlichen Telefon. Private Anschlsse gab es nirgends, nicht einmal in den Kinderheimen, vielleicht in einem der grsseren Hotels, die aber nicht das ganze Jahr hindurch offen waren. Das Zentrum der Stadt war die Strandprommenade. Dort befanden sich die meisten Cafs und das 'Kurhaus', das grsste Hotel, und einige Pensionen. In der Mitte der Strandprommenade stand die grosse 'Muschel` des Prommenadenorchesters, das whrend der Hochsaison den wandelnden Gsten dreimal tglich aufspielte, gemss der Tradition aller Kurorte. Im Winter stand natrlich alles verdet da. Die Mehrheit der Hotels, Pensionen oder Cafs war geschlossen. Es blieb nur das Meer, grau und strmend. Ein eisiger Wind peitscht schwarze Wolken vor sich her, niedrig ber der tobenden See. Ich liebte solche Tage und fhlte mich der strmenden, schumenden See hingezogen. Auch die tobende See an Wintertagen am Strand von Tel-Aviv hat ihre Reize.
Im Grossen und Ganzen ist ja die Nordseekste im Winter nicht kalt (der Golfstrom) aber strmisch und regnerisch. Im Dezember begann es zu schneien. Im Anfang nur zgernd, dann blieb der Schnee und wurde zu Eis. Die Landschaft verwandelte sich in eine weisse Weite. Auch das Meer begann einer arktischen Landschaft zu hneln, mit Treibeis, dass zuweilen die Fahrrinne schloss und die Verbindung auf einige Tage unterbrach. Einmal erschien sogar ein (russischer) Eisbrecher, um den Weg zu ffnen. Die zeitweilige Unterbrechung der Verbindung bereitete kaum jemandem Kopfzerbrechen. Zur Not konnte man immer ber das Eis zum Festland hinberstiefeln. Ich weiss nicht, wie die Menschen in diesen Tagen ihre Zeit und auch ihre Freizeit verbrachten. Im Winter 1925/26 konnte man die Radio-Empfnger auf der Insel Fhr noch an einer Hand zhlen. Das war noch das Zeitalter des gemeinsamen Musizierens und des Gesanges, der abendlichen Lektre; ich kann mich auch nicht mehr entsinnen, womit wir Kinder uns an diesen langen Winterabenden beschftigt haben, wenn die Dunkelheit um halb vier hereinbrach.
Dezember ist der Weihnachtsmonat und zum ersten male erlebten wir die Atmosphre der weihnachtlichen Vorbereitungen. Weihnachten gab es bei uns zu Hause nicht - wenn auch die ganze Welt um uns herum feierte. In Deutschland steht Weihnachten an erster Stelle und die gesammte Geschftswelt im Zeichen festlicher Vorbereitungen: die Schaufensterdekorationen und das Paradis der Spielsachen (man fuhr extra nach Berlin der Schaufensterdekorationen wegen, die Zeitungskritik usserte sich zu den Auslagen der Warenhuser). Die deutsche Spielzeugindustrie war einzigartig in der Welt - dreissig Jahre vor Amerika und Japan. Na- trlich waren Spielzeug und Weihnachen irgendwie in unserer Vorstellung verknpft, der Begriff 'Weihnsachten' selbst war Tabu. Dessen ungeachtet war das Geschft, ein Stockwerk unter uns und unter unserem eigenen Dach, von oben bis unten mit Tannenzweigen geschmckt. Die Beziehung der deutschen Juden zu Weihnachten war immer irgendwie ambivalent. Viele wollten darin nur eine deutsche Sitte sehen, jeder religisen connotation bar. Ich glaube, die Anzahl der Juden in Deutschland, die ihren Weihnachtsbaum herrichteten war grsser als die der Ablehnenden. Weihnachten war eben ein Stck deutscher Kultur, und es schwer sich dagegen zu wehren. Man erfand daher einen etwas befremdenden Kompromis: war auch Weihnachten das Symbol der Geburt Jesu - so versuchte man es irgendwie mit Chanuka zu verflechten, das nicht selten um die gleiche Zeit fiel. Vielleicht ist hier die Quelle von Trendel, Geschenken und Pfannkuchen. Den Kopf darber zerbrechen sich heute zumeist die Juden Amerikas, seit eh Fachleute in der Schaffung religiser Synthesen.
Wir fhlten uns irgendwie nicht ganz daheim in diesem Rummel, im Grunde gehrten wir nicht dazu. Und schlimmer noch: vielleicht begingen wir durch unser Dabeisein eine Gesetz- bertretung .(עבירה?) Schliessich ist es die 'ultima ratio' jeder religisen Lehre, ihren Glubigen die Angst vor der Gesetzesbertretung, der Snde, einzubluen - !מות ימות - Tod dem Snder. Denn was ist Angst, wenn nicht die Angst vor dem Tode, vom Gestzestren bis zum Zweifler, vom Apikores bis zum Papst.
Eigentlich begann Weihnachten schon einen Monat vorher, und zwar mit dem ersten der vier Advent-Sonntage. Wie im amerikanischen Film: Tannenzweige mit Lichtern, intime Beratung, wem was zu schenken, Handarbeiten im Verborgenen, Weihnachtslieder an den Abenden. Auch der Weihnachtsstollen wurde geraume Zeit vorher gebacken. Ich hatte den Eindruck, er musste, wie das Wild, irgendwie vorher gelagert werden. Frl. Hubo verlor zeitweilig ihre Migrne, wurde aufgeschlossener und vergass einige ihrer Vorurteile.
Am heiligen Abend gingen wir alle zusammen in die Kirche. Es war fr uns nicht das erste Mal. Troz allem vorher erwhnten, Mamma hatte nie etwas dagegen, wenn Gertrud uns mal ab und zu in ihre Kirche mitnahm (?). ber schneebedeckte Felder gelangten wir zu einer Jahrhunderte alten Kirche, aus groben Feldsteinen erbaut, mit niedrigem Glockenturm, so richtig um den Stmen der See zu trozen. Die Weihnachtsmesse selbst sagte uns nicht viel; erst Jahre spter verstand ich die hebrischen Grundlagen der christlichen Lithurgie, die der שמונה עשר' nhmlich. Irgendwelchen religisen Eindruck hinterliess der Gottendienst nicht. Es war eher eine Schau.
Zurrck im Haus, versammelten sich alle Kinder im Korridor, vor dem Esszimmer, und mit dem Klingeln einer Glocken betrat man den Raum: der grosser Tannenbaum mit brennenden Lichtern, 'Stille Nacht, heilige Nacht', und unter dem Tannenbaum fr jeden die Geschenke. Tabu oder nicht Tabu, unsere Chanuka-Geschenke waren zur rechten Zeit eingetroffen - Weihnuka, im Westberliner Stil. Zum Abendessen gab es zwar nur kaltes Buffet um die Angestellten so frh wie mglich zu befreien, in ungewohnter Auswahl, und am nchsten Tage die gefllte Weihnachtsgans, gefllt mit irgend etwas schweren und Speck, und ich bin nicht sicher, dass ich davon gekostet habe.
Es strmte und toste, die Brandung der See weither von Strand vernehmbar, schwere dunkele Wolken ber ewig grauem Himmel, Regen und Schnee - und ich wurde nicht krank! Die Bronchitis war zwar noch da, aber ich bekam kein Fieber mehr. Dr. Hberlin, unser behandelnder Arzt, ein alter Schwabe, den der Himmel weiss was fr ein Schicksal hier in diese gottverlassene Gegend verschlagen hatte, mass sorgfltig den Brustumfang, brummte etwas Unverstndliches, Schwbisches, in sich hinein, verschrieb ein paar Vitamine hier, etwas Eisen da, etwas zum Appetit anregen, fr alle Flle, - aber ich bekam kein Fieber mehr!
Im Januar schloss sich uns Gert aus Freienwalde an. Er war ein Jahr jnger als wir und schien uns usserst verwhnt; vor allem brstete er sich eines krassen Strassenjargons. Er ge- whnte sich mit Leichtigkeit an die neue Umgebung und freundete sich im Handumdrehn mit allen Kindern an. Gert gehrte zu jenen Typen, die auf jeden Baum klettern, in jedes Loch kriechen und immer an der Spitze eines Schwarms von Kindern stehen. Auch er war schwer bronchitisch, erblich von seiner Mutter her; Tante Rosa litt ihr Leben lang schwer an Asthma, zuweilen von Lungenentzndungen begleitet, eine Krankheit, die sie frh in ihrem Leben dahinraffte. Im grossen und Ganzen war Gert viel robuster als ich und begann schon frhzeitig mit Sport, etwas, was ich nie in meinem Leben betrieben habe. Ich weiss nicht, ob die Nordsee ihn auch gegen das Asthma gesthlt hatte; soviel ich weiss, soll er spter asthmatisch geworden sein.
Der Frhling kam, in nrdlicher Ausgabe allerdings, sehr zgernd und sehr vorsichtig. Unseren 10ten Geburtstag am 14. Mrz fhlten wir als ein besonderes Ereignis - eine Art Scheideweg gewissermassen, denn Ostern beendeten wir unser viertes Jahr Volkschule und hatten in die erste Gymnasialklasse berzugehen. Wie macht man das? Fr Meta war das weiter kein Problem. Sie wurde kurzerhand in die Wyker Mittelschule eingeschult, nachdem sie ohne Schwierigkeiten die Aufnahmeprfung bestanden hatte. Fr mich lagen die Dinge anders. Nachdem ich Monate lang kein Schulbuch angerhrt hatte, musste ich fr die Sexta des Wriezener Gymnasiums vorbereitet werden, vor allem in Franzsisch (Schleswig-Holstein lehrte Englisch als erste Fremdsprache. Wie Meta damit fertig wurde, kann ich mich nicht mehr entsinnen). Man liess sich also den Lehrplan aus Wriezen kommen, sowie die entsprechenden Lehrbcher in Franzsisch, Rechnen Grammatik und Lesestoff.
Der Lehrer, der mich vorbereiten sollte, war ein alter Pensionr aus dem Bekanntenkreis von Frl. Hubo. Er war sehr angenehm im Umgang und ich hatte den Eindruck, nicht schlecht vorwrts zu kommen; spter, in Wriezen, wurde mir allerdings das Gegenteill klar. Der Lehrer war sicher kein Mittelschullehrer und auf der Hhe des wriezener Lehrerkollegiums. Im Laufe der Jahre aber wurde ich vorsichtiger, meine akademischen Niederlagen meinen Lehrern in die Schuhe zu schieben. Wie es Meta diesbezglich erging habe ich vergessen; ich glaube, sie hatte weit weniger Probleme als ich ich, wenigstens in den ersten Jahren. Ich weiss auch nicht mehr, was Gert machte; aber er war ein Jahr jnger und gengend begabt, um auf einige Schulmonate verzichten zu knnen.
Whrend der Wintermonate waren in Hilligenlei nicht mehr als fnf, sechs Kinder. Unter uns war ein Mdelchen von vier Jahren, Anntje, der Eltern die Unterhaltskosten auf die Dar nicht aufbringen konnten, und die dan noch eine Weile ohne Bezahlung blieb. Dann kam eines Tages ein 12 jhriger Junge aus Berlin zu uns, im Gesicht weiss wie Kalk, der sich kaum auf den Beinen halten konnte. Er war nicht im Stande, irgend etwas zu sich zu nehmen und wurde nach kurzer Zeit bettlgerig. Stndig hatte er Fieber. Einige Zeit schien, dass sein Appetit sich gebessert htte, bis man entdeckte, dass er sein Essen unter der Matratze in Zeitungen verpackt versteckt hatte. Er war berhaupt nicht mehr fhig, ewas hinunter zu schlucken und suchte sich auf diesem Wege weitere Bemhungen zu ersparen. Sein Bett konnte er nicht mehr verlassen. Dr. Hberlin, der alte Schwabe, suchte Frl. Hubo zu beruhigen: "Haben Sie keine Angst, so etwas kommt vor". Noch zgerte Frl. Hubo, sich zu etwas entschliessen, aber nach weiteren vierzehn Tagen alarmierte sie endlich die Eltern in Berlin. Die Mutter erschien, Hals ber Kopf; bis Dato war sie in dem Glauben, alles sei mehr oder weniger in Ordnung. Angesichts des Kindes, oder was von ihm brig geblieben war, brach sie zusammen. Sie nahm den Jungen nach Haus - und sandte zwei Wochen spter die Todesanzeige. Die Ursache, Bauch-Tuberkulose, damals unheilbar, und schon sicher, wenn, wie in diesem Falle, vernachlssigt. Es war hier natrlich ein Ausnahmefall, der aber mit etwas Aufmerksamkeit und Verstndnis verhindert htte werden knnen.
Krankheiten in Kinderheimen kamen vor - zumeist die blichen Kinderkrankheiten, von Keuchhusten bis Masern, und niemand nahm dies besonders tragisch - die grossen Ferien waren immer die Jahreszeit der Kinderkrankheiten. In besonderen Fllen verhngte man Quarantne und die Kinder des Heims mussten sich an einem besonderen Abschnitts des Strands aufhalten, dem 'Keuchhustenstrand'.
Nach Ostern begann sich Hilligenlei aufzufllewn. Unter anderen erinnere ich mich an einen Jungen von 14 Jahren, fr sein Alter entwickelt, dem seine Mutter einen teuren Fotoapparat in Grsse von 9/12 mit allem Zubehr mitbrachte. Damit begann fr uns ein Zeit intensivsten Fotografierens. Im Anfang benutzte man Glassplatten, die man in die Kassetten in vlliger Dunkelheit einsetzen muste, spter kam 'Filmpack' hinzu, das den Prozess vereinfachte. Die meisten Aufnahmen aus Hilligenlei stammen von diesem set. Wir bentzten auch 'Blitzlicht' (Flash war noch in weiter Ferne). Ein Blitzlicht war eine Zinnkapsel, gefllt mit Schwarzpulver, dass z.Zt. des Abbrennens mit etwas Magnesium gemischt wurde, das gleichfalls mit der Verpackung kam. Das ganze wurde an einen Besenstiel montiert, ein Stckchen Papier diente als Zndschnur - und los gings! Zwar waren die Gesichter manchesmal schlohweiss und schreckverzerrt und der Raum dicht mit Rauchschwaden angefllt, wie nach einem Bombardement. Der Junge mit der Kamera blieb nicht lange bei uns; er bersiedelte in ein Heim mit Kindern seiner Alterstufe. Das Fotografieren aber ging weiter. Unsere Eltern sandten uns einen Apparat 9/12, die ntigen Fachkenntnisse hatten wir uns bereits angeeignet und den ganzen Sommer noch vor uns!
Viele Kinder kamen auch schon vor Beginn der grossen Ferien, und das aus verschiedenen Grnden - und nicht immer gesundheitlichen. Unter ihnen die bereits erwhnten 'schlechten Esser': Der behandelnde Arzt oder beratende Erzieher glaubten scheinbar, dass die Terror-Methoden Frl. Hubos das erziehlen wrden, was zu Hause unerreichbar war. meistens tat die unmittelbare Umgebung das ihrige und die Kinder wurden in den Strudel der Fresser mit gezogen. Aber auch Familienverhltnissen spielten manchmal eine Rolle: man wollte ein Kind fr eine Weile aus dem Wege haben. Es gab noch ab und zu Flle von Rachitis (ein berbleibsel aus dem 19ten Jahrhundert); mit Lebertran versuchte man Vitamin D zu verabreichen - fr ultra-violette Strahlung sorgte die See. Das natrlich unter der Bedingung, dass sich die Eltern diese ultra-violette Strahlung auch leisten konnten - und bestimmte damit mehr oder weniger das gesellschaftliche Mosaik der Kinderheimbevlkerung. Das sagt nicht, dass mittellose erholungsbedrftige Kinder nicht an die Nordsee geschickt wurden; aber bestimmt nicht in Privat-Kinderheime.
Natrlich hielten viele Kinder nicht hinter dem Mond, was es alles bei ihnen zu Hause gab: Vater, der Senator, hatte seine Yacht auf der hamburger Alster. Hier waren die Eltern auf einer Nordlandreise begriffen und stellten deshalb ihren Sohn in Hilligenlei ab. Dort war Mamma in Italien, und hatte keine Zeit, sich mit Tchterchen abzugeben. Die grsseren Mdels sorgten sich schon sehr um ihre Kleidung und wussten genau was sich in den berliner Nachtklubs abspielt. Wir sperrten natrlich bei solchen Geschichten aus einer glitzernden Welt Mund und Ohren auf. Wir waren noch nie im Kino gewesen, unsere Mutter hatte kein wchentliches Bridge-Krnzchen, und wir hatten keinen grossen Bruder, der in Afrika und in Hawai herumreiste und Ananas fr die Firma seines Vaters aufkaufte. Und unter ihnen waren schon Jungens oder Mdels, die ganz genau wussten, woher die Kinder kommen, wenn auch die Versionen verschieden waren, entsprechend den Quellen, die ein jeder zur Verfgung hatte. Ein eindeutiges, klares Bild ergab sich jedenfalls nicht. Die Kindertanten, unter ihnen na- trlich auch Edith und Gertrud, bekamen Wind von dem Inhalt gewisser Unterhaltungsthemen. ffentlicher Rundgesang des damals gngigen Modeschlagers "Ich hab' das Frulein Len baden sehn" schlug dem Fass den Boden aus und verursachte schwere moralische Erschtterungen. Als ob die Damen 'Erzieherinnen' nicht htten eigentlich wissen mssen, dass unter Kindern diese Dinge zwangslufig zur Sprache kommen. Was gesagt wurde, weiss ich nicht mehr, aber das furchtbare Tabu, dass ber das Thema verhngt wurde, hinterliess unter uns den Eindruck, dass die Grundlagen unser blossen Existenz bedroht waren. Wer versucht, das Bildnis zu Sais zu entschleiern, dem droht Vernichtung. Das Naschen vom Baum der Erkenntnis hat schon immer seinen Preis gehabt.
Nach Pfingsten kammen immer mehr Kinder zu uns. Man begngte sich nicht mehr mit blossen Spaziergngen, sondern orgarnisierte grssere Ausflge, u.a. auch Bootsfahrten. Die wyker Fischer nutzten ihre schnen Segelboote nicht nur zum Fischfang aus. Whrend der Sommersaison dienten sie hauptschlich den Badegsten. Es waren dies anmutige Segler, 20-25 m lang und mit einem starkem Motor ausgerstet und in Wind und Wellen absolut sicher. Man konnte fr ein- oder zwei Stunden an der Kste entlang segeln, oder eine der Halligen oder benachbarten Inseln anlaufen. Ein beliebtes Ziel war Westerland/Sylt, wenn auch dort die Pflege der Krperkultur damals dort noch nicht ihr heutiges Niveau erreicht hatte. Wie die das dort anstellen, weiss ich nicht: auch mit Badeanzug war es meistens kalt genug. Aber wer weiss, vielleicht setzt dort tatschlich schon die vorausgesagte Erwrmung der Erdoberflche ein - und wenn auch nur im Herzen der Beteiligten...
In spteren Jahren nahmen wir an grsseren Ausflgen teil, wie z.B. nach Helgoland, damals nicht viel mehr als ein Ausflugsziel und Touristen-Attraktion in der Nordsee. Frs erste be- gngten wir uns mit Segelfahrten. Manchmal war es recht windig und das Boot schaukelte nicht wenig. Die wenigsten waren gegen die Seekrankheit gefeit, aber ich selbst gehrte zu den Wenigen, um so merkwrdiger, dass ich keine Stunde in der Eisenbahn oder im Autobus fahren konnte, ohne dass mir schlecht wurde. Wind und Wellen machten mir nichts aus. Mit vollen Segen bei frischem Wind zu kreuzen ist ein Erlebnis. Mit unserem Lieblingsboot 'Forelle' und seinem Besitzer Jakob besuchten wir die naheliegenden Halligen, vor allem Langeness, direkt vor der Insel Fhr gelegen, oder Amrum. Oder eine 'Mondscheinfahrt', wenn das Meer glatt und Mond und Sterne sich im Wasser spiegelten und nur ein Wellenschlag oder das Knarren der Segel zu hren war.
Es gehrte immerhin ein gewisses Mass von Selbstsicherheit und Courage dazu, eine Schar von 15-20 Kindern im gemischten Alter auf einer Segelfahrt oder am Badestrand im Zaum zu halten. Aber so weit ich mich erinnern kann, ist whrend der ganzen Jahre dort nie ein Unfall in irgend einem Heim passiert, und ein Kind zu Schaden gekommen. Niemand dachte an Versicherung, und ich glaube auch nicht, dass die Segelboote versichert waren.
Ausflge gab es nicht nur auf See, auch ins Inland der Insel Fhr wurden Fahrten unternommen. An die 10-15 Drfer umfasste die Insel, mit Gehften im Stil der englischen Cottages des 18ten Jahrhunderts: niederige Huser, sturmgebeugt, mit Strohdchern - Wohnhaus und Stlle unter einem Dach. Die Wohnrume blitzten vor Sauberkeit. Die Holzfuss- bden waren mit weissem Sand besreute. Kupfer- und Messinggerte hingen spiegelblank an den Wnden herum, ber dem offenen Herd. Friesland ist eben schon beinahe Holland, und in Holland glnzt alles. Die Dorfeinwohner aber waren schon an die Touristen gewohnt und Frauen und Tchter in rtlicher Tracht und Schmuck liessen sich bereitwillig fotografiren. Reiseandenken standen in Flle zum Verkauf, Filigranarbeit und handgemalte Wandteller mit allen mglichen Sprchen und Versen. Einer der schnsten erschien auf einer Ansichtskarte und ich habe ihn bis heute im Gedchtnis behalten und sogar auf Ivrit bersetzt:
Wir fhlten uns irgendwie nicht ganz daheim in diesem Rummel, im Grunde gehrten wir nicht dazu. Und schlimmer noch: vielleicht begingen wir durch unser Dabeisein eine Gesetz- bertretung .(עבירה?) Schliessich ist es die 'ultima ratio' jeder religisen Lehre, ihren Glubigen die Angst vor der Gesetzesbertretung, der Snde, einzubluen - !מות ימות - Tod dem Snder. Denn was ist Angst, wenn nicht die Angst vor dem Tode, vom Gestzestren bis zum Zweifler, vom Apikores bis zum Papst.
Ein Seehund liegt am Meeresstrand
Wscht seine Schnauz im Dnensand
Oh mge doch Dein Herz so rein,
Wie dieses Seehunds Schnauze sein!

Von den vielen Kindern, die whrend der Sommermonate in Hilligenlei weilten, habe ich einige nicht vergessen. Sie waren etwas lter als wir, und jdischer Abkunft. Es war da ein 12 jhriges Mdchen aus Berlin, erwachsen fr ihr Alter und ungeher selbststndig. Sie half uns im Franzsischen, dass sie fliessend sprach. Sie hiess Edith Markus. Dann waren da zwei Vettern aus Stettin im Alter von 13 Jahren, ebenfalls sehr selbstbewusst. Einer von ihnen, etwas dicklich und pflegmatisch, hrte auf den Spitznahmen 'Sanittsrat', seiner usseren Erscheinung wegen und seiner medezinischen Ratschlge, die er kostenlos verteilte. Der andere der beiden Vettern, Heinz Cohn, war stmmig, ironisch und sarkastisch, braun gebrannt und der Typ eines Sportlers; er schalt uns stets, wenn wir es nicht wagten ins Wasser zu gehen, dessen Temperatur meistens nicht ber 13-15 Grad war. Ihn traf ich wieder, 16 Jahre spter, im Land, im Kibuz Ashdot Jaakov, unter dem Namen Chiskijahu Cohen. Klein und mager und alles andere als sportlich, nahm man ihn nicht ganz ernst und betrachtete als ein wenig schrullig, als jemanden, der sich nicht recht in seine Umgebung anzupassen vermag. Er war verheiratet, hatte eine 'Klafte' als Frau, die der Schrecken aller Kinderpflegerinnen war. Wir tauschten Erinnerungen aus, aber bis heute kann ich nicht fassen, dass dieser Kauz der gesunde, intelligente, humorvolle Heinz Cohn des Sommers 1926 gewesen sein soll. Psychologen haben sich sicher mit der Frage beschftigt, wie es kommt, dass Kinder sich Idole whlen. Kann jemand mit bestimmten Charakterzgen sich im Alter in sein Gegenteil verwandeln? Oder machen sich Kinder ein Bild von einem Menschen, das der Wirklichkeit garnicht entspricht? Wie ich hrte, soll sein Elternhaus und seiner Eltern Existenz (das Warenhaus Ahrenheim & Cohn in Stettin) zerstrt worden sein. Chiskijahu weilt seit vielen Jahren nicht mehr unter den Lebenden. Gewiss hat man ihn auch im Kibuz Ashdot Jaakov vergessen; die einzige Erinnerung an ihn mag vielleicht die meine vom Sommer 1926 sein.
Eines Tages im August erschien unser Vater, ohne Voranmeldung, wie vom Himmel gefallen. Er kam von Hamburg, wohin er seine Schwester Rosa auf ihrer Rckreise nach Amerika begleitet hatte. Rosa war nach zwanzig Jahren zu ersten Mal auf Verwandtenbesuch nach Deutschland gekommen. In Dagebll hatte Pappa keine Verbindung gehabt und sich daher kurzerhand ein Fischerboot gemietet, dass ihn hinbersetzte. Die berraschung war voll- stndig, und die Neuigkeiten, die er mitbrachte, nicht minder. Schwester Rosa, verheiratet und wohl situiert, kam mit ihrem 10 jhrigen Sohn, der hoffte, seine Cousins und Cousinen anzutreffen und war sehr enttuscht, weder uns oder Gert zu sehen. Er trstete sich mit unseren Spielsachen, vor allem mit meiner elektrischen Eisenbahn. Amerika der zwanziger Jahre kannte so etwas noch nicht; derartige Sachen waren deutsche Exportartikel und usserst teuer. Kurz und gut, unsere Eltern gaben ihm die Eisenbahn mit allem Zubehr mit, ohne viel zu fragen - es war auch niemand dazu da. Ich bekam dafr einen "echten" Indianeranzug mitgebracht, bestickt mit Bildern und - Hakenkreuzen, ein Symbol, dass im damaligen Amerika keinerlei besondere Bedeutung hatte. In Deutschland war das schon etwas anderes, und die Hakenkreuze wurden deshalb wegekratzt. Doch alles das entdeckte ich erst, als ich wieder zu Hause war. Und noch etwas passierte diesem Sommer in Wriezen whrend unserer Abwesenheit. Ein gross organisierter Diebstahl im Geschft kam zu Tage, an dem das ganze Personal, mit Ausnahme von drei, vier Angestellten, beteiligt war. Zwei von ihnen nahm die Polizei in Gewahrsam, die anderen wurden entlassen. Die Sache fing damit an, dass der Schlchtermeister von Gegenber dazu kam, wie einer unserer Angestellten seinem Gesellen ein Paar Hosen verkaufen wollte. Nach einigen Wochen Beobachtung konnte man die Beteiligten fassen.
Und dann wurde zu Hause mit dem grossen Umbau begonnen. Ein Teil des zweiten Stockwerkes (die Mietswohnung war gerumt worden) kam zum Geschft dazu und auch unsere Wohnung unterlief nderungen. Die Arbeiten endeten nicht vor dem Frhjahr 1927.
Der Sommer ging seinem Ende zu und wir begannen an unsere Rkkehr nach Hause zu denken. Aber man durfte keinesfalls eine abrupte nderung unserer Lebensweise schaffen - und deshalb war eine sogenannte 'Nachkur' am Platze, um graduell in den Alltag zurrck zu kehren. In Frage kam Bad Harzburg. Der Harz ist Mittelgebirge, nicht mehr als 700-800 m hoch, eigentlich ein Erholungsort fr ltere, aber auch fr geschworene Fusswanderer. Zu diesem Zwecke ist man verpflichtet, sich mit einem Bergstock mit Eisenspitze auszursten. Die obligaten 'Stockngel' erwirbt man durch Absolvierung der entsprechen Wanderziele (oder auch nicht), denn ein Bergstock ohne Ngel ist wie ein Reisekoffer ohne Hotel-Zettel. Keinesfalls zu vergessen seien auch die Brockenhexen, die zur Walpurgisnacht um den Brocken ziehen, dem hchsten Berg im Harz, und die man als Autoanhnger oder Halsketten (18 Karat) erwerben kann (es sei denn, man htte sie bereits im Haus). Der Besen wird in jedem Falle frei geliefert.