Von den vielen Kindern, die whrend der Sommermonate in Hilligenlei weilten, habe ich einige nicht vergessen. Sie waren etwas lter als wir, und jdischer Abkunft. Es war
da ein 12 jhriges Mdchen aus Berlin, erwachsen fr ihr Alter und ungeher selbststndig. Sie half uns im Franzsischen, dass sie fliessend sprach. Sie hiess Edith Markus. Dann waren da zwei Vettern aus Stettin im Alter von 13 Jahren,
ebenfalls sehr selbstbewusst. Einer von ihnen, etwas dicklich und pflegmatisch, hrte auf den Spitznahmen 'Sanittsrat', seiner usseren Erscheinung wegen und seiner medezinischen Ratschlge, die er kostenlos verteilte. Der andere der
beiden Vettern, Heinz Cohn, war stmmig, ironisch und sarkastisch, braun gebrannt und der Typ eines Sportlers; er schalt uns stets, wenn wir es nicht wagten ins Wasser zu gehen, dessen Temperatur meistens nicht ber 13-15 Grad war.
Ihn traf ich wieder, 16 Jahre spter, im Land, im Kibuz Ashdot Jaakov, unter dem Namen Chiskijahu Cohen. Klein und mager und alles andere als sportlich, nahm man ihn nicht ganz ernst und betrachtete als ein wenig schrullig, als
jemanden, der sich nicht recht in seine Umgebung anzupassen vermag. Er war verheiratet, hatte eine 'Klafte' als Frau, die der Schrecken aller Kinderpflegerinnen war. Wir tauschten Erinnerungen aus, aber bis heute kann ich nicht
fassen, dass dieser Kauz der gesunde, intelligente, humorvolle Heinz Cohn des Sommers 1926 gewesen sein soll. Psychologen haben sich sicher mit der Frage beschftigt, wie es kommt, dass Kinder sich Idole whlen. Kann jemand mit
bestimmten Charakterzgen sich im Alter in sein Gegenteil verwandeln? Oder machen sich Kinder ein Bild von einem Menschen, das der Wirklichkeit garnicht entspricht? Wie ich hrte, soll sein Elternhaus und seiner Eltern Existenz (das
Warenhaus Ahrenheim & Cohn in Stettin) zerstrt worden sein. Chiskijahu weilt seit vielen Jahren nicht mehr unter den Lebenden. Gewiss hat man ihn auch im Kibuz Ashdot Jaakov vergessen; die einzige Erinnerung an ihn mag vielleicht
die meine vom Sommer 1926 sein.
Eines Tages im August erschien unser Vater, ohne Voranmeldung, wie vom Himmel gefallen. Er kam von Hamburg, wohin er seine Schwester Rosa auf ihrer Rckreise nach
Amerika begleitet hatte. Rosa war nach zwanzig Jahren zu ersten Mal auf Verwandtenbesuch nach Deutschland gekommen. In Dagebll hatte Pappa keine Verbindung gehabt und sich daher kurzerhand ein Fischerboot gemietet, dass ihn
hinbersetzte. Die berraschung war voll- stndig, und die Neuigkeiten, die er mitbrachte, nicht minder. Schwester Rosa, verheiratet und wohl situiert, kam mit ihrem 10 jhrigen Sohn, der hoffte, seine Cousins und
Cousinen anzutreffen und war sehr enttuscht, weder uns oder Gert zu sehen. Er trstete sich mit unseren Spielsachen, vor allem mit meiner elektrischen Eisenbahn. Amerika der zwanziger Jahre kannte so etwas noch nicht; derartige
Sachen waren deutsche Exportartikel und usserst teuer. Kurz und gut, unsere Eltern gaben ihm die Eisenbahn mit allem Zubehr mit, ohne viel zu fragen - es war auch niemand dazu da. Ich bekam dafr einen "echten" Indianeranzug
mitgebracht, bestickt mit Bildern und - Hakenkreuzen, ein Symbol, dass im damaligen Amerika keinerlei besondere Bedeutung hatte. In Deutschland war das schon etwas anderes, und die Hakenkreuze wurden deshalb wegekratzt. Doch alles
das entdeckte ich erst, als ich wieder zu Hause war. Und noch etwas passierte diesem Sommer in Wriezen whrend unserer Abwesenheit. Ein gross organisierter Diebstahl im Geschft kam zu Tage, an dem das ganze Personal, mit Ausnahme
von drei, vier Angestellten, beteiligt war. Zwei von ihnen nahm die Polizei in Gewahrsam, die anderen wurden entlassen. Die Sache fing damit an, dass der Schlchtermeister von Gegenber dazu kam, wie einer
unserer Angestellten seinem Gesellen ein Paar Hosen verkaufen wollte. Nach einigen Wochen Beobachtung konnte man die Beteiligten fassen.
Und dann wurde zu Hause mit dem grossen Umbau begonnen. Ein Teil des zweiten Stockwerkes (die Mietswohnung war gerumt worden) kam zum Geschft dazu und auch unsere
Wohnung unterlief nderungen. Die Arbeiten endeten nicht vor dem Frhjahr 1927.
Der Sommer ging seinem Ende zu und wir begannen an unsere Rkkehr nach Hause zu denken. Aber man durfte keinesfalls eine abrupte nderung unserer Lebensweise schaffen -
und deshalb war eine sogenannte 'Nachkur' am Platze, um graduell in den Alltag zurrck zu kehren. In Frage kam Bad Harzburg. Der Harz ist Mittelgebirge, nicht mehr als 700-800 m hoch, eigentlich ein Erholungsort fr ltere, aber auch
fr geschworene Fusswanderer. Zu diesem Zwecke ist man verpflichtet, sich mit einem Bergstock mit Eisenspitze auszursten. Die obligaten 'Stockngel' erwirbt man durch Absolvierung der entsprechen Wanderziele (oder auch nicht), denn
ein Bergstock ohne Ngel ist wie ein Reisekoffer ohne Hotel-Zettel. Keinesfalls zu vergessen seien auch die Brockenhexen, die zur Walpurgisnacht um den Brocken ziehen, dem hchsten Berg im Harz, und die man als Autoanhnger oder
Halsketten (18 Karat) erwerben kann (es sei denn, man htte sie bereits im Haus). Der Besen wird in jedem Falle frei geliefert.