Benjamin Radchewski
1926-1929
Nach einem Jahr weniger einer Woche kehrten wir nach Wriezen zurrck. Alles schien anders: Die Zimmer, die Mbel, unsere Sachen, das Spielzeug - alles schien uns viel kleiner als frher. Wir waren eben ein Jahr lter geworden. Das ganze Haus war noch im Umbau begriffen. Wir hausten provisorisch im grossen Wohnzimmer, und es dauerte noch zwei- drei Monate, bis die Wohnung bewohnbar war. Unsere nchste Sorge aber war die Schule. Wir musste die entsprechenden Aufnahmeprfungen machen um berhaupt aufgenommen zu werden. Eine sorgenschwere Zukunft.
Also auf zur Aufnahmeprfung in der stdtischen Mittelschule. Die Schule hatte im ganzen nicht mehr als sechs Klassen, von Sexta bis Untersekunda. Ab Unterterzia waren die Klassen gemischt, Jungens und Mdels zusammen. Die Schule nannte sich Reform Real Pro Gymnasium: Real - weil Franzsisch, Englisch und Naturwissenschaften gelehrt wurden, Pro - weil in Untersekunda Latein dazu kam. Damals wollten auch die exakten Wissenschaften nicht auf das Latein verzichten - heute glaube ich nicht, dass ein Arzt, Apotheker oder Jurist noch ein Wort Latein lernt.
Wer sein Abitur machen wollte, musste die drei Oberklassen im benachbarten Freienwalde absolvieren, wo es eine sogenannte 'Vollanstalt' gab. Die Gesamtzahl der Schler im Wriezener Gymnasium war nie ber 100, und in anderen kleinen Ortschaften war die Situation die gleiche. Die breite Masse begngte sich eben mit Volksschulbildung - sogar die Amtsstellen zogen Lehrlinge mit 'abgeschlossener Grundschule' denen mit teilweiser Mittelschulbildung vor. Bis auf heute aber wundere ich mich, wie die Stadt es fertig brachte, eine Schule mit so geringer Schlerzahl zu unterhalten - und das fr 16 Mark im Monat.
Das Lehrerkollegium war meinen Eltern grsstenteils bekannt, ich kannte niemanden dort. Bei der Aufnahmeprfung stellte es sich bald heraus, das die frnzsischen Grundlagen, die ich in Wyk erworben, keinesfalls den hiesigen Anforderungen gengten, insbesondere, was die Aussprache anbetraf. Alles brige weiss ich nicht mehr, sicher war auch hier nicht alles frei von Beanstandungen. Ich wurde jedenfalls in die Sexta aufgenommen. Man lernte dort usserst intensiv, und in einer kleinen Klasse von weniger als 20 Schlern konnte man sich nicht verstecken und anonym bleiben. Die Hauptfcher waren Deutsch, Franzsisch und Rechnen.
Deutsch hiess vor allem Grammatik - eine komplizierte Angelegenheit, als ob es sich um eine Fremdsprache handelte. Die Terminologie war lateinisch, ganz in philologischem Rahmen, der auch dem Erlernen anderer europischen Sprachen dienlich ist. Substantiv und Prdikat, Adjektiv und Verbum, Futurum und Perfekt - alles wre halb so schlimm gewesen, wren wir nicht in Hnde eines Fanatikers gefallen. Er blute uns die Lehre wortwrtlich ein, in Form von knallenden Backpfeifen, spontan, und auch nach Notizen, die er sich im Verlaufe der Stunde machte. Die verschiedenen Begriffe waren auswendig zu lernen, und wehe dem, der es wagte, sich eigener Logik zu bedienen - wenn man berhaupt von Logik sprechen konnte. Hier galt nur das gedruckte Wort. Eines muss man allerdings zugeben: der grammatische Fanatismus hatte eine gewisse Berechtigung. Die Mehrheit meiner Mitschler sprach das Idiom der Strasse mit himmelschreienden grammatischen Fehlern. Die Frage ist, ob grammatische Logik ausreicht, sich einen 'reinen' Sprachstil anzueignen (Show, Pygmalion). Sprache ist das Ergebnis von Umgebung - und nicht zuletzt auch von Lektre. Die Juden sprachen allgemein gutes Deutsch, noch ein Grund mehr zum Antisemitismus. Meine Schwche waren Schreibfehler, grsstenteils Flchtigkeitsfehler, die mir viel zu schaffen machten, bis zu dem Zeitpunkt, an dem Inhalt und Stil interessierte und ber Kleinigkeiten wie Schreibfehler hinweggegangen wurde. Die Lsung brachte erst die Schreibmaschine - mit der Hand habe ich nie viel ausrichten knnen.
Rechnen haben wir sicher nicht anders gelernt, als die Kinder gleicher Alterstufe heute auch: "Wenn 1 Pferd 20 Km in der Stunde rennt - wie schnall laufen dann 10 Pferde?". Oder, schner noch: "Wenn ein Pferd 1 Kg Hafer pro Minute frisst, wie lange fressen 10 Pferde das Kilo?". Wenn ich mich weder in Rechnen, noch in Franzsisch oder Rechtschreibung auszeichnete, so kann ich doch beim besten Willen keinem die Schuld daran geben. Die viktorianischen Unterrichtsmethoden trugen bei anderen trotz alledem Frchte. Als wir in Unterterzia mit Englisch begannen, war es nicht anders. Als ich aber die Schule verliess - konnte ich pltzlich doch Englisch, warum und wieso - der Himmel weiss! brigens lehrte man Fremdsprachen in deutschen Schulen nur, um die Klassiker der Sprache im Original lesen zu knnen. Wieviel Racine und Voltair hat man aber schon gelesen? Ich nehme an, dass Pop und Fernsehen heute mit dieser Anschauung aufgerumt haben.
Zweimal in der Woche fand Turnunterricht statt, an Gerten in der Turnhalle oder Leichtatlethik im Freien. Mittwoch Nachmittag war Spielturnen auf dem Schtzenplatz. Man hatte in entsprechender Kleidung und Turnschuhen anzutreten. berflssig zu erwhnen, dass ich mich an diesen Aktivitten nie beteiligt habe. Ich war laut rztlichen Attestes davon befreit - mit welcher Begrndung ist mir entfallen. Ich htte mich auch nicht auf dem Barren oder dem Reck vorstellen knnen. Im Gegensatz zu den Grundstzen jener Zeit, dass man ohne 'krperliche Ertchtigung' nicht im Leben bestehen knne, bin ich whrend meines Lebens ganz gut ohne Sport ausgekommen, und das angesichts der Tatsache, dass meine Existenz ausschliesslich auf krperliche Arbeit begrndet war.
Meine persnliche Beziehung zur Schule war die von Angst und absoluter Distanz. Ich hatte Angst vor jedem Schultag. Die Schule erweckte in mir ein Gefhl der Feindseeligkeit - nicht gerade die Lehrer, sondern die Mitschler. Weshalb, weiss ich eigentlich nicht. Ich zeichnete mich in der Schule durch Nichts aus, und es bestand kein Grund, mich um irgend etwas zu beneiden. Ich nehme an, der Grund der Feindschaft, in dem Masse, in dem diese wirklich bestand, lag in meiner Kontaktarmut. Und das blieb immer so; die politischen Spannungen nach 1930 verschrften diesen Zustand noch. Mich einer Jugendbewegung anzuschliessen hatte ich keinerlei Gelegenheit, und so wuchs ich, bis ins Erwachsenenalter, ohne Gesellschaft auf.
Ende 1927 war der Umbau beendet. Der Laden hatte nun ein zweites Stockwerk, zu dem eine breite Treppe herauf fhrte. Im zweiten Stock war die Damenkonfetktion - Kleider und Mntel - untergebracht, und der 'Putz', die Abteilung fr Hte und die Hutmacherei. Hutmacherei war ein Beruf fr sich (eine Hutmacherin nannte sich, glaube ich, Directrice), und der Hut war noch ein unerlsslicher Bestandteil der Damengarderobe. Bis Ende der 20iger Jahre wurden tatschlich noch Damenhte nach Bestellung angefertigt. Am Ende des Verkaufsraumes waren zwei kleine Zimmer untergebracht: die 'Putzmacherei' und Nhstube fr nderungen und das 'Comptoire', das Bureau, in dem Mamma die Bcher fhrte und jahrelang auch die Bilanz machte; und wo ausserdem noch Platz fr eine Sekretrin mit Schreibmaschine war und Regalen mit Leitzordnern ringsum. Viel Bewegungsfreiheit gab es nicht.
Im Erdgeschoss waren alle brigen Verkausabteilungen: Herrenkonfektion, Schnitt- und Weisswaren, Kurzwaren und Baby-Ausstattungen. Es gab bereits eine (mechanische) Registrierkasse von NCR, am hinteren Ende des Geschfts. Die Abrechnung war recht um- stdlich. Jeder Verkufer hatte einen Block Kassenzettel, die in dreifacher Ausfertigung auszu- fllen waren; einen Zettel bekam der Kunde, ein zweiter ging mit der Ware an die Kasse und der dritte diente zur Kontrolle. (Ein derartiges System existiert heute noch einzig und allein bei "Hamaschbir" in Tel-Aviv). Der Verkufer hatte die Ware an die Kasse zu bringen, bei Andrang kein kleines Problem.
Fnf grosse Schaufenster dienten als Auslage, unter Aufsicht eines Dekorateurs. Das Vorbild war, wie immer, Berlin: das Niveau der damaligen Schaufenster-Dekoration fiel absolut nicht von dem Heutigen ab. In Wriezen war die Preislage natrlich der rtlichen Kaufkraft angepasst und nichts wurde ohne Preis ausgestellt. Pariser Modelle erwartete kein Kunde in Wriezen.
Die Jahre 1924-1929 waren die Zeit der Konjunktur in Deutschland. Der jhrliche Umsatz des Geschfts erreichte die 250000 Mark. Wieviel das heute sein mag? Der amrikanische Dollar stand damals RM 4.20, wer aber weiss noch, wie gross die wirkliche Kaufkraft des Geldes war. Ich kann mich auch nicht entsinnen, wie hoch die Gehlter der Angestellten waren. Ich glaube, der Dekorateur bekam zwischen 300-400 Mark, das hchste Gehalt, die Kassierin 200-250 Mark. Ein Lehrmdchen bekam 20 Mark den Monat. Die Kalkulation der Ware scheint an 25% auf den Einkaufspreis gewesen zu sein. Wie hoch wohl der jhrliche Verdienst abzglich der Ster gewesen sein mag, weiss ich nicht. Ich weiss nur, dass Mamma als Angestellte gefhrt wurde und soziale Abgaben fr sie geleistet wurden. Mitglieder einer Krankenkasse waren wir nicht.
Nach der Renovierung der Wohnung bekam jeder von uns sein eigenes Schlafzimmer, d.h. Meta hatte ihres mit dem Kick zu teilen. Ich bekam ein kleines Zimmer angrenzend dem Schlafzimmer der Eltern. Toilette und Badzimmer wurden zwar renoviert, blieben aber auch weiterhin recht primitiv. Die Toilette befand sich im Badezimmer, fliessendes warmes Wassr gab es nicht, ein mit Kohle heizbarer Badeofen sorgte auch weiterhin fr das wchentliche warme Bad. Fr den tglichen Bedarf diente das Waschbecken mit kaltem Wasser mit Unter- sttzung des Heisswasserkessels. Der Fortschritt gegenber den vergangenen Jahren war darin, dass nun Waschbecken und Wasserkanne (Porzelan, blumenverziert) aus dem Schlafzimmer verschwunden waren. An einen Boyler dachte man auch damals noch nicht. Wie dem auch sei, das tgliche showerbath scheint sich in Westeuropa erst nach dem Kriege einge- brgert zu haben. In Erez Jisrl war es seit jeher in Gebrauch. Als die "Jewish Brigade Group", die Kampfeinheit aus Erez Jisrael im Rahmen der britischem Armee im zweiten Weltkrieg, berall wo sie stand, auch im Schnee und Eis des Winters 1944/45, ihre heisse Dusche zum tglichen Gebrauch ihrer Soldaten installierte, wurde das in der britischen Armee als eine Revolution, eine Auflehnung gegen alles Hergebrachte empfunden und verursachte eine schwere 'Identity Crisis' bei den Englndern.
In Wriezen gab es keine Kanalisation (es sieht mit nicht so aus, als ob sich das bis heute gendeert htte). Jedes Haus hatte einen grossen Gully, der von Zeit zu Zeit ausgepumpt werden musste. Es war dies das Unternehmen des Besitzers einer fahrbaren Dampfpumpe, die, gezogen von einem Gespann, einen Tankwagen vollpumpte, der dann irgendwo auf den Feldern ausgeleert wurde. Kanalisiert wurde nur das Regenwasser aus Dachrinnen und Rinnsteinen. Das Haus hatte Zentralheitzung, aber nur in den Geschftsrumen und Schlafzimmern. Es war dies Warmwasserheitzung, das Brennmaterial Koks. Die Wohnzimmer behielten weiter ihre guten, alten Kachelfen, mit Briketts geheizt. Es wurde nie durchgeheizt, im Gegenteil, die Fenster in den Schlafzimmern standen des Nachts immer einen Spalt offen. Jeder Ofen hatte natrlich seinen Schornstein, und von Mal zu Mal steckte der Schornsteinfeger seinen Kopf in die Haustr und rief: "Morgen wird gefegt!"
Schon als wir klein waren, drehten wir uns immer im Laden herum. Als wir wir grsser wurden, halfen wir schon manchesmal aus, meistens an den vier offenen Adventssonntagen und an den Oster- und Pfingstsonnabenden. Wir halfen den Verkufern gekaufte Ware zur Kasse zu bringen und manchmal Kunden den Kassenzettel nachzutragen, wenn die inzwischen in eine andere Abteilung herbergewechselt hatten. Fr mich gab es dann immer das Problem, den betreffenden Kufer zu indentifizieren: "Alle Jewonim haben ein Ponim!" - auch wenn ich noch eine Minute vorher mit ihm gesprochen hatte. Im brigen geht es mir bis heute so - es ist dies ein Mangel an 'Volksverbundenheit', im Jargon der damaligen Epoche, von unseren Eltern als Arroganz kritisiert.
Zu Weihnachten wurde immer eine besondere Spielwarenabteilung eingerichtet, im Mittelpunkt die unvermeidliche elektrische Eisenbahn mit Tunnel und Brcken. Unser Grammophon wurde in einer Ecke aufgestellt, und wir hatten fr die 'background music' zu sorgen. Es gab zwar noch keine Verstrker und der Apparat wurde noch mit der Hand aufgezogen - der Lrm war aber fr alle Beteiligten ausreichend, und mehr als einmal baten die Verkuferinnen und Atempause. Natrlich war die Spielwarenabteilung, im zweiten Stock, zusammen mit der Damenkonfektion, zur 'Besichtigung' fr die Kinder freigegeben, was das Durcheinander da oben noch vergrsserte.
Die Jahre 1924-1929 berschwemmten die Geschfte mit Kufern, vor allem vor den Feiertagen; man musste schon manchmal zeitweilig schliessen, um dem Andrang gerecht zu werden. Nach Ladenschluss waren alle erledigt, Chef und Angestellte. brigens, Verkaufen ist ein Beruf wie jeder andere auch, der erlernt werden will. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich besonders darin ausgezeichnet htte. Im Andrang kauft ein Kunde zwar leichter - wer aber mit Bestimmtheit weiss, was er sucht, der lsst sich nicht so leicht von einem windigen Ladenschwengel breitschagen. Damals konnte man aus dem Munde alter Verkufer viele Schnurren und Moritaten hren, ber die Kunden und die Kunst des Verkaufens, unter Anwendung von Methoden, die vielleicht dem Geschftsgebaren eines arabischen Basars entstammten. Ein Drei Mark-Stck in der Tasche eines Ladenhters sollte eine magische Anziehungskraft auf den mutmasslichen Kufer auswirken. Aber auch die Kundin, die unter den Hten der Preislage von RM 3.95 ein Modell sucht war ein beliebtes Gesprchsthema. Jahre spter, in Erez Jisrl, suchten wir vergeblich nach einem Geschft, in dem man sich um die Kundschaft bemhte. Personal gab es kaum, und den Ladeninhaber interessierte es wenig, ob man kaufte oder nicht: er tat Dir noch einen Gefallen, wenn er berhaupt fragte, was Du willst. Das ist nun schon an die fnfzig Jahre her. Die grossen 'Ketten' haben die kleinen Ldchen wachgerttelt, und das Ineresse an der Kundschaft hat sich erheblich gendert. Aber auch im Frankfurt unserer Tage scheinen die arkadischen Verhltnisse vergangener Zeiten dahin zu sein.
Wir spitzten natrlich die Ohren bei solchen Erzhlungen; wo konnte man seinen Horizont mehr erweitern? Besonders stolz waren wir, wenn wir die Tegeslosung zur Post bringen konnten. Unsere Eltern arbeiteten nie mit einer Bank. Fr Bargeld sorgte die Tageskasse, die Regulierungen gingen ber Postscheck. Wer brauchte 'overdraft' oder vordadierte Schecks. (Wie ein Scheck berhaupt aussieht, lernte ich erst viele Jahre spter). Die Zahlung von Lieferanten erfolgte innerhalb von dreissig Tagen mit 3% Skonto. Gehlter wurden Ultimo gezahlt. Eine Bank war fr Hypotheken und langfristige Anleihen. Und auch das nicht unbedingt: eines Tages sass bei uns im Wohnzimmer ein lterer Mann, von dem mein Vater uns nachher erzhlte, er htte ihm an diesem Tage die letzte Rate seiner Hypothek zurrgezahlt. Geldgeschfte privat - mit Handschlag!
Die jhrliche Inventur war nicht weniger aufregend. Sie fand zwischen dem 27. und 31. Dezember statt. Die Stille nach dem Weihnachtsrummel ermglichte das, doch musste man sich immerhin anstrengen, um bis Sylvester fertig zu werden und manchmal arbeitete man berstunden; dann wurden Kaffee und Kuchen oder belegte Brote gereicht. Auch hier fehlte es nicht an 'Flachs': ob das Garn zu messen sei und die Stecknadeln zu zhlen. Am Knpfe zhlen haben wir uns ja beteiligt. Sylvester war fr uns immer irgendwie mit Inventur verbunden. Mit den Wnschen: Frohes nes Jahr verabschiedete sich das Personal um die siebente Stunde und ein Jeder eilte zu seiner Party. Unser Sylvester aber bestand aus etwas versptetem Kaffee und einen Blick auf die Listen, wie das Lager wohl fr die Steuer zu bewerten sei. Ein Weilchen hrte man noch dem Radio zu - dann ging man Schlafen, und auch die Stadt Wriezen tat nichts, um unsere Nachtruhe zu stren. Es knallte kein Feuerwerk, und wer schon feierte, tat das in den eigenen vier Wnden. Der Epilog kam am zweiten Januar: das herkmmliche Datum zum Umtausch der Weihnachtsgeschenke, manchmal mit nicht wenig Kopfzerbrechen. Und noch etwas gab es am zweiten Januar, dem ersten Verkaufstag im neuen Geschftsjahr: der glckliche Verlauf des kommenden Jahres hngt davon ab, ob das erste Stck, dass am zweiten Januar verkauft wird, weiss oder schwarz ist. Woran ich mich nicht mehr erinnern kann ist, ob das Personal gemss diesem Grundsatz handelte, und wenn, mit welchem Erfolg.
Auch Einbrche gab es des fteren. Die Tren liessen sich zwar nicht so leicht aufbrechen, in die Schaufenster war es schon leichter zu gelangen. Einmal fasste eine Polizeistreife die Tter, und darnach wurde Notbeleuchtung installiert. Grsseren Schaden aber richtete uns einmal die Sonne an. Unser 'Hausdiener', ein junger Bursche von 15-16 Jahren fand eines Sommermorgens um fnf Uhr nicht aus dem Bett, um die 'Markisen' ber den der Morgensonne ausgesetzten Schaufenstern herunter zu lassen. Das Ergebnis war katastrophal: die Schaufensterpuppen, damals noch aus Wachs, schmolzen buchstblich dahin - der Anblick glich einem Gemlde von Salvadore Dali...
Die drei Jahre 1927-1929 sind keine lange Zeit fr einen Erwachenen, fr ein Kind aber schon. Wir wuchsen in diesen Jahren heran, irgendwie berwand ich die Quinta und kam in die Quarta, die Sommerferien wurden wie gewhnlich verlngert (wie das Gymnasium dem zustimmte ist mir schleierhaft). Den vllig verregneten Sommer 1927 verbrachten wir in Krummhbel im Riesengebirge. Wir langweilten uns zu Tode und schworen uns, nie wieder ins Gebirge zu fahren. Die nchsten sechs Sommer wares daher immer wieder Wyk, 1933 das letzte Mal.
Gert aus Freienwalde war immer mit dabei, und inzwischen hatte er auch ein Schwesterchen bekommen, Uschi. Ein oder zwei mal schloss sich auch Margot, Ernsts Schwester, aus Breslau an. Wir reisten immer mit Gertrud und Liesbeth, die in den letzten Jahren nach Freienwalde bergesiedelt war und Gert und Uschi betreute. So eine Fahrt, im durchgehenden Zug vom Lehrter Bahnhof bis Dagebll war immer ein Unternehmen. Ausser einem Riesengepck musste man auch Proviant fr die ersten Tage mitnehmen. So reichte meine Mutter einmal einen Korb mit fnf Kilo Kirschen in den Zug, um daraus Kompott zu kochen. Gert und Margott bernahmen die Aufsicht darber - nur stellte sich heraus, dass der Korb in Wyk leer ankam; Gert und Margot brachten es fertig, innerhalb einiger Stunden die fnf Kilo aufzuessen.
In Wyk mietete man drei Zimmer mit Kche, meistens jedes Jahr im dem selben Haus. Whrend der Sommersaison war in Wyk immer viel los - zumindest fr uns Kinder. Wettbewerb im 'Burgenbau' rings um den Strandkorb, mit Hilfe von Muscheln, Steinen und Seetang liessen sich ganze Kunstwerke schaffen, das Wattenmeer eine unerschpfliche Fundgrube fr Material jeder Art. Einmal bekamen wir sogar einen 'dritten Preis', desgleichen in einem Fotowettbewerb, fr eine Aufnahme, auf der sich Meta im Strandkorb auszieht mit der Unterschrift: "Wyker Strandidyll". In den letzten Jahren machten sich auch schon die politischen Spannungen in der Kunst des Burgenbaus bemerkbar, in der Form von Inschriften und Symbolen. Vor allem aber im sogenannten 'Flaggenstreit'.
Im Grunde genommen fehlte es in Deutschland nicht an Fahnen - jeder Winkel und jedes Nest fhrte seine eigene Flagge, an der Spitze natrlich die Lnder. So konnte jeder seinem Lokal- und Regionalpatriotismus nach Herzenslust frhnen. Dahinter aber lag etwas, was tiefer ging. Mit dem Zusammenbruch des Kaiserreiches 1918 und der Grndung der Weimarer Republik wurde die alte schwarz-weiss-rote Reichsflagge Bismarcks (Schwarz-Weiss fr Preussen, Rot fr Kurbrandenburg - wo blieben die anderen?) mit der schwarz-rot-goldenen des norddeutschen Bundes von 1848 (oder des 'rmischen Reiches deutscher Nation') ausgewechselt. Dieser Schritt erwies sich bei der breiten Masse als wenig populr. Die alte Fahne erinnerte an vergangenen Glanz und Sieg und Ehre, an vergangenen Wohlstand und Goldstcken als Zahlungsmittel. Die neue Fahne bedeutete den Sozialismus, die Inflation und die verhasste Demokratie der linken Intellektuellen. Was machte es schon aus, dass die Ehre durch Verschulden von Kaiser und Heer verlorenging, dass Kapital und Schwerindustrie, der Rechten zugehrig, die Inflation anheizten - wen kmmerten schon nebenschliche Wahrheiten? Schwarz-Rot-Gold war eben Sozi und in den Augen der Mehrheit nicht legitim. Daher wagte keiner so recht die offizielle Flagge zu hissen - es sei denn, er wollte eine umstrittene politische Anschauung demonstrieren. Da war es schon einfacher, Schwarz-Weiss-Rot aufzuziehen, und keiner fragte berflssige Fragen. Fr die Juden war die Flaggenfrage etwas, das man besser nicht berhrte, und das Flaggen berhaupt unterliess. Die Fahnen userer Burg am Wyker Strand waren daher neutral. Als Epilog im Frhjahr 1933: die einzige 'historische' schwarz-weiss-rote Fahne in Wriezen wehte auf dem Dach des Kaufhaus' Dallmann, nhmlich die Fahne der Erffnung im Jahre 1912. Allerdings sah mein Vater nach einer halben Stunde den Irrsinn dieser Handlung ein und packte die Fahne zurrck in die Mottenkiste.
Was ist mir noch von einer Fahrt nach Helgoland in Erinnerung geblieben? Der rote Felsen, nicht weit von der Elbmndung gelegen gehrte bis 1896 zu England und wurde dann gegen die Kolonie Zansibar eingetauscht (die Perle gegen den Hosenknopf). Das grne Grass, der rote Fels und der weisse Strand - ja, auch Helgoland fhrte seine Farben - waren seine Reklame, und das ehemals englische Fischerdorf lebte nicht schlecht von Touristik und und der Tatsache, sich ausserhalb der Zollgrenze zu befinden. Die ganze Insel war ein Duty free Shop, so wie ihn heute jeder Flughafen kennt: gyptische Zigaretten, russischer Kaviar und Australische Wolldecken wurden von einem andrngenden Publikum ebenso ehrwrdig bestaunt, wie dann spter die Schaufenster des Westens von den biederen DDR-Brgern. Aber viele mussten auf der Rckreise auf dem Dampfer angesichts der pltzlich berall auftauchenden Zollbeamten entdecken, dass das eigentliche Geschft die Basare in Helgoland gemacht hatten. Ich nehme an, dass nach dem Kriege, als die Allierten die U-Bootnester haushoch in den Himmel gejagt hatten und der Felsen trotz allen Befrchtungen standgehalten, die Ureinwohner Heligolands zu ihrer gewohnten Beschftigung auf die Insel zurrckgekehrt sind. Ob eine zollfreie Zone innerhalb der EG von heute noch irgenwelche Bedeutung hat, kann ich natrlich nicht sagen - aber vielleicht gleichen ein zustzliches Kassino und ein Nudistenstrand die Verluste aus...
Whrend einer unserer letzten Sommer-Aufenthalte ind Wyk setzte sich Jemand in den Kopf, dass ich unbedingt Schwimmen lernen msste. Im Meer schwimmen zu lernen heisst, an eine Leine angebunden zu werden und im Wasser die selben lcherlichen Bewegungen zu machen, die man vorher auf dem Trockenen gebt hatte. Ich weiss nicht, warum einen ein solches Gestrampel ber Wasser halten soll - noch dazu bei einer Wassertemperatur von 13 Grad. Schwimmen lernte ich also nicht, ungeachtet der Tatsache, dass es alle anderen ja lernten. Aber ebenso erging es mir mit anderen Kursen, an denen ich spter ohne offensichtliche Begeisterung teilnahm, und auch fr die irgend jemand bezahlte - meine Eltern, oder wie im letzteren Falle, das jdische Volk: nhmlich ausser Schwimmen noch Tanzen und Handgranaten schmeissen, drei Fertigkeiten also, ohne die ich mich bis auf heute durchs Leben schlagen muss.
Im Mrz 1929 wurde ich 13 und damit בר מצוה. Die 'Barmitzwa' war aber nicht fr mich allein gedacht, sonsdern fr uns beide, Meta und mich zusammen. Unsere Eltern standen zwar nie den Reformgemeinden nahe, aber da wir nunmal Zwillinge waren, schien es ihnen am Platz, es irgendwie gemeinsam durchzufhren. Es schmeckte dies ein wenig nach 'Konfirmation' wie im protestantischen Deutschland blich, fr Jungens und fr Mdels zugleich. Die Konfirmation, oder 'Einsegnung', wie sie bei uns hiess, fand zwar im Alter von 14 Jahren statt und war im Allgemeinenn auch mit dem Abschluss der Grundschule verbunden. Die Einsegnung hatte ihren Ritus auch in der usseren Erscheinung: Mdchen im schwarzen Seidenkleid, Jungens im dunkelblan Anzug mit Kravatte und Hut. In den letzten Jahren allerdings betonten die Kinder der 'gehobenen' Schichten mit bunten Kleidern der Mdchen und kurzen Hosen uns Schlermtze der Jungens, nicht zu Krethi und Plethi zu gehren.
Ein jdischer Junge von 13 war sicher nicht erwachsener als sein nicht-jdischer Klassenkamerad mit 14. Ultra orthodoxe Kreise nehmen dies zwar a priori an, aber die werden eben auch alt geboren, wie Sami Gronemann einmal irgendwo bemerkte. In Deutschland aber war man mit 13 noch ein Kind, wenn auch der Status der Bar-Mitzwa Reife bedeutete. Das hatten dann auch die Geschenke auszudrcken: ernste Bcher, Uhr, Kamera, erster Rasierapparat, Fllfeder - was nicht noch. So auch bei uns.
Zur Thora wurde ich am שבת זכור aufgerufen, eine Woche vor Purim. Weitaus greifende Vorbereitungen waren notwendig. Hier im Land werden die Kinder von Beginn der Schule an mit Bibel gefttert, und den meisten sind die entsprechenden Texte nicht ganz unbekannt. Fr ein Kind im Deutschland jener Tage lag die Sache anders. Den Wochenabschnitt musste man auswendig lernen, da er im Ssefer Thora ohne Punktation erschien. Er musste, ebenso wie die Haphtara entsprend dem Nikud gesungen werden. Die meine war Samuel 1,15 - die Geschichte, wie der Knig Saul die Jahrhunderte alte Rechnung mit Amalek zu begleichen hatte, in Form einer Strafexpedition, mit dem Befehl, alles kurz und klein zu schlagen. Saul seinerseits sah nicht viel Sinn in der Vernichtung von Rinder- und Schafherden (die Zivil- Bevlkerung - von mir aus) und zog damit den Zorn der Vorsehung auf sich - so jedenfalls der Prophet Saml. Dieser Schritt kostete ihm, Saul, Reich und Dynastie. Wer mehr ber das Thema wissen will, lese bei Joseph Heller nach, in seinem Buch "God knows", eine Art Auto-Biographie des alternden Knig David. Dieser ussert sich darin ausfhrlich zu dieser Affre und kommt zu dem pessimistischen Schluss, dass man Logik von Oben nicht erwarten darf.
Damals war aber bei einer Bar-Mitzwa in Deutschland das Vortragen von Maphtir und Haphtara nicht genug. Im Mittelpunkt hatte die Rede zu stehen - in welcher der Knabe angesichts der andchtigen Gemeinde seiner tiefgehenden moralischen Weltanschauung Ausdruck verlieh. Die Rede wurde natrlich von dem vorbereitenden Lehrer verfasst, und wenn der Lehrer, wie blich, Chasan-Schochet und Religionslehrer einer kleinen Gemeinde in einer Person war, so schrieb er eine solche Rede aus einem der dickleibigen Bnde ab, die den Chasanim und Predigern zur Vorbereitung ihrer Predigten zu den Feiertagen dienten, meilenlange Litaneien im Stile des 19ten Jahrhunderts, mit Zitaten aus Schriften und Talmud und dem heiligen Schwur knftig in ihrem Sinne leben zu wollen.
Der damalige Brauch nahm deartige Tiraden als selbstverstndlich hin - unsere Eltern und auch Gertrud bekamen eine Schock, als ich die Rede zum auswendig lernen nach Hause brachte. Die ganze Sache war etwas bis zur Lcherlichkeit Unmgliches und angetan, die Zu- hrer berdies noch zu langweilen. Predigen ist Aufgabe des Raw, nicht eines Kindes. No deal - trotz des damit geschaffenen Przedensfalls. Das heisst aber nicht, dass auch nach mir Generationen von Jungens keine Barmitzwa-Reden mehr hielten, prefabricated, that is!
Ich las Maphtir und Haphtara, im Nigun der Urzeit, und dann stellte sich Meta neben mich und der Chasan sprach nur den alten Segen יברכך השם... Ohne Kitsch.
Die Feier zu Hause war nicht gross, es versammelten sich an die 20 Gste, hauptschlich die Verwandtschaft aus Breslau. und Berlin. Zum bernachten waren die Gste im rtlichen Hotel untergebracht. Den Clou bildete natrlich das Essen, zu dem speziell eine Kchin engagiert ward. Den Rahmen bildete die engere Familie. Man traf sich selten, die Entfernungen waren gross. Man fuhr schon mal zur goldenen Hochzeit nach Breslau oder zu Lilys Hochzeit nach Pillau in Ost-Preussen. Aber das waren Ausnahmen.
Gerts Bar-Mitzwa in Freienwalde war dagegen eine grosse Affre, im grssten Saal der Stadt mit ber 150 geladenen Gsten, mit Salmon-Sauce-Remoulade und Rehrcken, Peking-Ente und Champagner und Tanz bis in die wee hours. Und natrlich deklamierte Gert seine steinerweichende Rede.
Im Isrl unserer Tage gibt es selten eine Bar-Mitzwa unter 500 geladenen Gsten. Die Veranstalter begrnden dies meist mit 'noblesse oblige'. Wozu eine alte Bekannte aus Sde Moshe zu bemerken pflegte: 'oblige' mag ich noch verstehen - aber wo ist die 'noblesse'?